Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 294

Künstlerherzen (Drachmann, Holger)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 294

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294 DRACHMANN.

der Frucht nach, während er den Kern wegwirft. Die ersten paar
Tage nach dem ersten verabredeten Stelldichein brachten Entwürfe
zu grossen Arbeiten, die sich nach und nach jedoch verminderten und
schliesslieh nur in ein paar einzelne Verse ausliefen. Die erste Be-
rauschung hatte sich gelegt. In der Seele des Mannes tritt dann eine
Pause ein, gleichsam ein stilles Fleckchen in der aufgerührten See;
während dieser Pause wird das Verhältniss entschieden, die Sache
des Weibes plaidirt. Der Mann wird, wenn er Idealist ist, ihr Ver-
theidiger, wenn er ein vom Leben gesättigter Egoist ist, ihr Richter.

Ich wurde ihr Vertheidiger. Aber wie viel war hier nicht zu
berücksichtigen? Gegen wie Vieles war Nachsicht zu üben? Wie kind-
lich unbewusst war nicht ihre Koketterie, wie natürlich für sie! Sie
ahnte es beinahe selbst kaum. — Eine mangelhafte, mindestens nicht
genügend geleitete Erziehung, lebhafte Phantasie und musikalische An-
lagen: wozu führt das in so abgelegenen Winkeln der Welt? — Und
dann von den Eltern zu diesem Landmanne gezwungen! — Das sagte
sie ja selbst. Aber nun war es einmal so, und sie blickte mich
an! — Wollte ich die Verantwortung auf mich nehmen, zu brechen?

Ich fragte sie zur Erwiderung nach ihrem Verhältnisse zu Heinrich. Ihre
schönen Augen wurden so traurig und dann wieder so hell strahlend.
Was hätte sie auch in einer solchen Zeit Anderes thun sollen? Es ist
ja so natürlich: man ist in seinem Innersten gelangweilt über die ein-
förmige Bravheit und nüchterne Ehrsamkeit, die den Namen des jungen
Forstrathes führt, und man begegnet einem jungen, unschuldigen
Phantasten, der einem sein Bild malt und vierhändig mit einem spielt.
Was thut man? Man schwärmt mit ihm; — aber wenn dann der
Rechte kommt — was dann? Dann sitzt man auf der Bank und ruht
in seinem Arme, lauscht seiner Rede und fühlt, dass hier der Hafen,
hier die Zuflucht sei, die — die Ach, wie ist die Eitelkeit des
»Rechten« doch ein Instrument, das sich so gern anschlagen lässt und
sich an den Tönen seiner eigenen Melodie erfreut!

Es war eine herrliche, stille Mittagsstunde, mit starkem Dufte
und Summen drin im Walde, und der Kopf mit den Locken ruhte an
meiner Schulter, und diese herrlichen Augen strahlten so hell und treuherzig,
— da verdunkelten sich plötzlich die klaren Augen, und die Hand löste
ihren zitternden Griff, um noch fester zuzugreifen und noch inniger
zu drücken unter der Frage von den süssen Lippen: »Was soll aus
mir werden? Willst du mich befreien von allen den Anderen, allen
denen, die — die ?« Und das Köpfchen barg sich an meiner Brust,
und ich sass verlegen.

Verlegen! Es nützt nichts, es zu verheimlichen. Was ist die
Antwort auf eine solche Frage? Ein Kuss. Und was ist ein Kuss?
Eine Wiederholung. Und eben weil er eine Wiederholung ist, führt er
zu keiner Entscheidung.

Während meine Augen in dieser Secunde unbestimmt hin und
her irrten, trafen sie auf einmal auf eine Gestalt weit drüben auf dem
anderen bewaldeten Hügel. Die Gestalt schien sich nach dem Fuss-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 294, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0294.html)