Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 295
Text
wege herabzubewegen, der zu uns heraufführte, und trotz der Ent-
fernung erkannte ich jetzt, dass es Heinrich war.
Sie fuhr mit einem kurzen Ausruf auf, rückte ihren Hut zurecht,
drückte meine Hand und war im nächsten Augenblick zwischen den
säulenhaften Stämmen verschwunden, deren unterster Theil durch das
üppige Unterholz verdeckt wurde.
Ich blieb sitzen und zog mechanisch ein Buch aus meiner Brust-
tasche. Nach fünf Minuten blickte ich vom Buche auf und begegnete
Heinrichs Blick.
Er war unruhig; er suchte rings umher; ich nickte, er biss sich
in die Lippe, machte Kehrt und ging wieder zurück, den Pfad hinunter.
Ich holte tief Athem. Ich würde in diesem Augenblick Alles
dafür geben, wenn ich wüsste, bis aufs Kleinste genau wüsste, was ich
damals während der zehn Minuten, nachdem mein Freund weggegangen
war, gedacht habe. Das würde eine interessante psychologische Ein-
leitung zu einem bedeutungsvollen Capitel in einem Roman werden können.
Ich erhob mich endlich und ging nach Hause. Unterwegs hielt
ich beständig an dem Wunsche fest, Heinrich zu treffen und eine Aus-
einandersetzung mit ihm haben zu können. Wir hatten einander während
der letzten Tage geradezu gemieden. Das war für die Dauer unaus-
stehlich. Wir waren ja doch Kameraden und Freunde gewesen, so weit
ich nur zurückdenken konnte. Wir mussten durchaus eine gegenseitige
Erklärung haben. Armer Freund!
Er war nicht zu Hause. Im Grunde erleichterte mich das. Denn
wer würde — und besonders in solchen Angelegenheiten — nicht am
liebsten aufschieben?
Ich sah mich fast mit Wehmuth in den beiden Zimmern um. Es
war ja wahrscheinlich, dass er derjenige war, welcher auszog, nachdem
die Erklärung stattgefunden hatte. Ich hätte ihn so gerne geschont,
aber ich musste es doch sagen; er war derjenige, welcher sich zurück-
ziehen musste. Sie hatte ja mich gewählt. Ich war es, der
Aus einer Art Pietät gegen die geschlagene Partei begann ich
in Ermanglung einer anderen Beschäftigung, seine Sachen zurecht zu
legen, ja, ich packte geradezu für ihn ein. Es sah unordentlich genug
unter seinen Sachen aus. Hier lagen unausgewaschene Pinsel und
Paletten zwischen geglätteten Hemden und Kämmen und Bürsten; so
unordentlich pflegte er doch sonst im Allgemeinen nicht zu sein. Dort
lag seine Lectüre — es war nicht viel — und da wieder seine
Skizzenbücher.
Es war mir warm geworden. Ich setzte mich aufs Sofa und
zündete mir eine Cigarre an. Sein Koffer war vollständig gefüllt, die
Skizzenbücher wollten nicht mehr recht hineingehen; ich nahm eines
von ihnen und blätterte darin. Zahlreiche Entwürfe zu ein und demselben
Kopfe. Ich fühlte, dass sich mir das Blut in der Wange erhitzte, als
ich diesen Kopf in diesem Buche sah und daran dachte, wie vielemale
»sie« ihm wohl gesessen haben mochte. Nein, das musste ein Ende
nehmen; sie hatte ja heute, in dieser Mittagsstunde, mich erkoren.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 295, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0295.html)