Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 301
Text
Ich wartete auf ihn an meiner »Hobelbank«, aber ich hobelte
nicht viel. Ich wurde unruhiger und unruhiger, während die Stunden
vergingen und der Abend zur Nacht wurde. Das Oel in der Lampe
ging zu Ende, ich wollte zu dieser Stunde die Leute nicht wecken
und suchte in unseren Koffern nach einigen Lichtstümpfen, an die ich
mich von früher her erinnerte. Ich erwischte glücklich ein Stümpfchen
und zugleich Heinrichs Skizzenbuch. Bei der elenden Beleuchtung
besah ich mir die Bank unter den hohen Buchen und las das Ge-
schriebene noch einmal. Gleichzeitig fiel mir der unglückliche Leier-
kastenmann ein. Nahrungssorgen — Liebessorgen! Ich riss das Blatt
heraus, ballte es zusammen und schleuderte es unter das Bett; und
ich gelobte mir selbst, wenn mein unglücklicher Freund wohlbehalten
wiederkäme, mit ihm am nächsten Tage nach dem Nachbarorte zu
gehen und von ihr eine Entscheidung in der Sache zu verlangen, die
für ihn eine Lebenssache geworden war. Einer von ihnen Beiden
musste es sein: entweder der Landmann oder Heinrich!
Man wird exaltirt, wenn man so bis in die späten Nachtstunden
hinein wacht.
Endlich, als mein Lichtstumpf ziemlich niedergebrannt war, kam
er. Er sah aschgrau im Gesichte aus, schweisstriefend, todmüde. Ach,
das Künstlerblut!
Er warf sich mir um den Hals; ich sprach beruhigend auf ihn
ein wie auf ein Kind. Als er hörte, was ich ihm für den nächsten Tag
versprach, liess er sich zu Bett führen — und schlief.
Es war nur wenig über zwei Meilen nach dem nächsten Orte,
und wir entschieden uns dafür, den Weg zu gehen; das muntere einen
auf und erfrische einen, meinte ich. Die Strasse führte zum grössten
Theile über Höhen und durch Wald. Aber welch ein Gang war
das! Die Luft war so hinreissend, die Insecten summten, und die
Sonne malte ihre Ringe auf den Teppich unter dem Laube — wir
zwei Menschenkinder aber wanderten dahin wie bei einem Begräbnisse.
Wir hatten einander ja nichts mehr zu sagen; Alles war erschöpft —
selbst die leersten Vermuthungen. Da hörte der Wald auf, und die
Höhe senkte sich hinab nach dem kleinen Orte zu, der unserem
eigenen Dörfchen fast auf ein Haar glich. Neben dem Fahrwege, auf
dem wir hinschritten, etwas tiefer liegend, führte zwischen niedrigen
Sträuchern und einzelnen freistehenden Bäumen ein Fussweg hin.
»Morgen werden es vierzehn Tage, dass wir hierher kamen!« warf ich
hin, um doch wenigstens etwas zu sagen; und bei mir selbst wieder-
holte ich: »Vierzehn Tage!« Heinrich antwortete nichts, sondern blieb
stehen und starrte hinunter nach dem Fusswege. Ich folgte der Richtung
seines Blickes und fasste ihn heftig am Arme.
»Heinrich!« rief ich.
Er wollte sich mir entwinden und den Abhang hinunter eilen.
Ich warf mich über ihn und musste Gewalt brauchen. Er stiess einen
Schrei aus und sank zusammen. Ich zerrte an ihm, zog ihn in die
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 301, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0301.html)