Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 300
Text
seine eigenen Worte — sich Schritt für Schritt hatte erkämpfen müssen.
Das hatte ihn gepeinigt, das hatte ihn beinahe zu Gefühlen von Hass
gegen mich getrieben. Darum musste er sein Glück nun doppelt so
hoch schätzen, weil ich mich hier einmal zurückzog; und was sie an-
beträfe, so kannte ich sie nicht, verstünde sie nicht. Sie sei unglücklich,
aber schwach; eine Wahl fiele ihr so schwer, sie zöge es vor, sich
dem Gefühle des Augenblicks hinzugeben, statt das bindende Ver-
sprechen zu halten. Wenn diese ihre Schwachheit mir zugute gekommen
sei, sei es doch ich, sein bester, sein einziger Freund — sein Leben
sei ein ununterbrochenes Leiden gewesen, weil er hätte verstehen
können, dass er der Geringere war; jetzt sei es lauter Glück, weil ich
sie ihm abtrete. Und nun musste, nun sollte eine Entscheidung dem
»Anderen« gegenüber getroffen werden (er nannte den jungen Forst-
rath nicht gern beim Namen), und ich müsse und solle ihm helfen.
Welch eine Demüthigung für mich! Meine ganze eigene Aus-
einandersetzung jetzt zu ihrer Vertheidigung umgedreht, jede kleine
Einwendung zu ihren Gunsten ausgenutzt, ganz, wie ich es ihm hätte
dictirt haben können; und dabei auch kein Schatten von Zweifel, keine
Spur von Befürchtung. Ich sei es ja gewesen, ich und wieder ich, dem
kein Wesen widerstehen könne, der sie dazu gebracht habe, zu wanken.
Ja, wäre es ein »Anderer« als ich gewesen — aber eben ich sei es
gewesen. Und seine Wangen glühten, und seine Augen strahlten, und
er drückte mir die Hand zum Danke — und ich sass da, ohnmächtig,
waffenlos gegenüber dieser jungen, unerfahrenen Liebe, der ich gegen
meinen Willen meine Huldigung darbringen musste, weil ich noch Ehr-
furcht im Herzen besass gegenüber der hinreissenden Blindheit der
Jugend, gegenüber ihrer Siegesfreude mitten in der Verirrung und
Niederlage.
Dann brachte ich ihn endlich ins Bett. Er schlief auch. Er war
ja sieben Jahre jünger als ich.
Und während ich die Lampe auf dem Tische noch brennen liess,
stand ich an dem offenen Fenster. Das war mir in den letzten Tagen
eine Zuflucht geworden.
Sein Aussehen am nächsten Vormittage war beinahe besorgniss-
erregend. Armer Freund! Ich redete ihm ernst und eindringlich zu,
abzureisen. Er verlangte zwei Tage Aufschub, die ich ihm gegen das
Versprechen einräumte, den Ort während dieser beiden Tage nicht
ohne meine Begleitung zu verlassen.
Er schrieb einen Brief und steckte ihn selbst in den Briefkasten
draussen. Er packte ein und packte wieder aus, genoss nichts bei den
Mahlzeiten, und in der Dämmerung, da wir bei einander sassen, brach
er in Weinen aus.
Ich legte die Hände um seinen Hals und bat ihn, mich einen
Wagen bestellen zu lassen, damit wir sofort von hier fortkommen könnten.
Er stiess mich von sich und erinnerte mich an mein Wort, noch
zwei Tage warten zu wollen. Ich kam mit Gegenvorstellungen; er nahm
seinen Stock und ging hastig hinaus in die Dunkelheit.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 300, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0300.html)