Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 299
Text
ruhigung, wenn auch eine gemischte. Nach einem reichlichen Genusse
süssen Weines hat ein bitterer Trank die beste Wirkung.
Aber diesmal glückte es mir nicht. Die Wunde war zu frisch.
So zwang ich mich denn, ernsthaft an Heinrich zu denken, den
Idealisten, den Recruten, der, wie ich wusste, zum erstenmale im
Feuer stand. Was würde ich ihm sagen? Wie sollte ich mich selbst
aus dem Spiele lassen und doch ihm die Augen öffnen? Ich vermochte
ja die Gewalt der Macht, die ihn gefangen hielt, zu beurtheilen, und
ich wusste, wie unbedingt er vertraute. Wie fest vertraute er nicht
auf mich!
Ich ging ans Fenster, zog das Rouleau in die Höhe und lehnte
mich hinaus. Wenn man einen Gedankengang nicht weiter verfolgen
kann oder nicht weiter verfolgen mag, dann heftet man sich mit einem
ganz eigentümlichen Interesse an Dinge und Personen, die einem sonst
ganz gleichgiltig sein und einen gar nicht weiter kümmern würden.
Ein solches gleichgiltiges Ding hielt eben jetzt draussen vor dem
Gasthause. Es war der Postwagen, der die zwei, drei kleinen Ort-
schaften längs jener Küste verbindet, und auf dem Wagen sassen zwei
»gleichgiltige« Personen und warteten auf den Kutscher, der abgestiegen
war, um den Postbeutel hineinzutragen.
Ich hatte, wie gesagt, diese mir gleichgiltigen Personen genauer
beobachtet. Es that mir ordentlich leid, dass der Wagen davonfuhr.
Nun gab es hier nichts mehr zu sehen, nichts, auf das ich hätte hören
können. Die Dächer und Schornsteine des Dorfes verschwammen in
der abendlichen Bläue, und die bewaldeten Höhen da droben bekamen
ein so träumerisches Aussehen. Nicht einmal so viel wie ein Hund auf
der Strasse! Ich fürchtete mich vor den Träumen da obenher vom
Walde. Ich zog den Kopf zurück, schloss das Fenster, liess das Rouleau
wieder herunter und zündete die Lampe an. Es kam Jemand draussen
auf dem Gange; ich erkannte Heinrichs Schritt und seine Art, die
Thürklinke zu fassen. Ich öffnete selbst, und ohne ihn anzusehen,
sagte ich:
Vierter Brief.
Es war über Mitternacht, und wir sassen noch im Sofa. Wir
sprachen nicht mehr zusammen. Alles, was von meiner Seite gesagt
werden konnte, war gesagt worden. Er hatte mir zugehört, hatte eine
Zeitlang stumm gesessen, hatte geantwortet, sich vertheidigt, sie ver-
theidigt — Alles, nur mich nicht angegriffen. Der brave Kerl!
Aber das war ja eben das Unglück.
Er war so gewohnt, sagte er, zu mir aufzublicken, meine Ueber-
legenheit anzuerkennen, sich vorzustellen — oh, über die Uebertreibung
der Jugend! — die Welt müsse mir zu Füssen liegen. Er wusste recht
wohl, dass ich in der kurzen Zeit erreicht hatte, was er — das waren
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 299, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0299.html)