Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 316
Text
Könnt’ ich nur alles durch meinen Tod ins Loth bringen, aber auch
darin sehe ich keine Verbesserung. Ach, unsere lieben, lieben Kinder!
Enfin, dem Verdruss nachgeben hilft nicht. Und der beste Eduard
o Gott, das Kind kann doch nicht ewig bei fremden Leuten bleiben.
Mein Herz bricht ich sehe überall Muth und Vertrauen und
fühle das auch selbst in mir aber alles fruchtlos.«
Ich kann Multatuli nicht gewissenlos Sonnenschein auf die Pfade
lügen, die er dort nicht fand. Freilich, das Genie erzwingt sich eine
ausgleichende Gerechtigkeit. Die Frau des Denkers gibt uns nur eine
Bestätigung dessen, was wir hierüber wissen, wenn sie schreibt: »Er
hat sich das Leben erleuchtet mit seinem Geist, mit seinem warm
klopfenden Herzen, welche beide er eins nannte, also mit seiner
ganzen herrlichen Persönlichkeit.« Er hat die überirdische Seligkeit
des »Hier stehe ich, ich kann nichts anders!« tausendmal sich erobert.
Er hatte die Welt zu Füssen, ob er gleich ein Bettler war. Und ob
er gleich ein Verbannter war, fern von dem geliebten Lande, in
dessen Sprache uns die Abdrücke seiner Seele überkommen sind, er
lenkte die Geister doch mehr als der König mit seinen unzähligen
Helfern.
Der kummerschwere Name Multatuli ist unsterblich geworden, er
erklingt täglich als eine schwere Anklage beider, der Gewaltsamen wie
der Trägen im Volke.
Multatuli ist in Deutschland gestorben. Er verlebte die letzte
Zeit zu Nieder-Ingelheim im Rheingau und wohnte in einem
einsamen Landhäuschen, das von massiger Anhöhe die Gegend um
sich beherrschte. Im Westen glänzte ein silberner Streifen. Dorthin
sah er oft hinüber, das war der Rheinstrom, der nach Holland
hinunterstrebte und seine Grüsse mitnahm. Auch andere Grüsse
wanderten dorthin. Das waren seine Bücher. Sie wurden nun auch
den Pastoren und Professoren gefährlich, die dort mächtiger sind
wie bei uns und auch eine gute Nuance nüchterner. Die vielen Varianten
seines heidnischen, seines Lieblingstextes »Genuss ist Tugend!«
flössten ihnen immer neues Grauen ein. Sie gaben sich auch keine
Mühe, den reinen Sinn solcher Worte zu fassen. Aber die Jungen ver-
standen sie wohl.
Multatuli starb am 19. Februar 1887, 67 Jahre alt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 316, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0316.html)