Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 315
Text
Man gab sich redlich Mühe, den Allzuoffenen in Vergessenheit
zu bringen. Aber die Literaturgeschichten der Professoren sind nicht
das Gedächtniss des Volkes; mit ihrer Todtschweigetaktik haben sie
doch erreicht, dass das Ausland jetzt erst erfährt, dass der edelste,
berühmteste und genialste Mann Hollands in diesem Jahrhundert ein
Mensch ist, dessen Namen man auf Verabredung öffentlich nicht aus-
sprach. Darum sucht man diesen Namen auch in den vielen deutschen
Literaturcompilatorien meist vergeblich. So geht’s dem Manne, bei
dessen Erwähnung den jungen, hoffnungsreichen Leuten Hollands das
Feuer aus den Augen schlug, dem man von Stadt zu Stadt folgte, um
seinen Worten zu lauschen, der der natürliche Anwalt der Verkannten,
Verfolgten und im Unglück Verkehrenden war, und der die »nation
éteinte« wieder einer Erwähnung werth machte.
Den grössten und nachhaltigsten Einfluss hat Multatuli wohl
durch seine »Ideen« ausgeübt, die von 1862—1877 in sieben Bänden
herausgegeben wurden. Die Fülle von Ideen und aphoristischem Form-
witz, die er in diese hunderte von kleinen, selbstständigen Stücken
niederlegte, ist unermesslich.
Er ist der Typus des Richters und Propheten vom alten Bunde.
Er hat durch seine Armuth sein Volk reich gemacht. Er zwang es,
ihn zu hören und lebte lieber in der Fremde, als dass er sich seinem
Willen beugte. Seine Armuth war zeitweilig so gross, dass er nicht
einmal seine eigenen Schriften in Besitz hatte. Wir haben die Schmach
documentarisch in den Briefen von seiner Hand, die seine zweite Frau
nach seinem Tode in zehn Bänden herausgegeben hat. Die erste Frau,
eine geborene Baronesss van Wynbergen, theilte die Noth der schlimm-
sten Zeiten muthig mit ihm. Sie sagte: »Ich will Dekker beistehen,
ich will zeigen, dass eine von Multatuli ganz erfüllte Frau Muth und
Willenskraft besitzt.« Sie war bald nach ihm mit den Kindern nach
Europa zurückgekehrt. Doch ehe sie zu ihm stossen konnte, musste
sie die gelegene Zeit abwarten, welche ihm die Weiterreise ermög-
lichte. Sie musste sich mit ihren Kindern die Passage erschleichen und
erleben, dasssie von Verwandten und Bekannten, die sie anflehte, sie möchten
sie bei dem Capitän auslösen, im Stiche gelassen wurde. Sie war zur
Flucht aus Brüssel genöthigt. Sie genoss eine Zeit lang die Gnade
eines Restaurateurs. Dekker schrieb später in einem Briefe über diese Periode:
»Was sie in dieser Zeit gelitten hat, ist nicht zu beschreiben. Sie schrieb
mir: Ach, Dek, meine Kniee knicken, wenn ich in das Speisehaus
eintrete!« — Doch sie musste, denn auch das Kind musste essen. Sie
waren periodisch jahrelang von einander getrennt. Sie war längere
Zeit in Italien und Frankreich, unter den ärgerlichsten Umständen
bald Lehrerin, bald Erzieherin, bald »Gesellschaftsdame«, Die Kinder
waren »cà et là«. Dabei waren diese Menschen zu stolz und zu fein-
fühlend, um der Welt oder sich selbst ihr Leid zu klagen. Nur die
höchste Angst konnte ihm wohl Worte wie die folgenden erpressen:
» Unter dem Schreiben dieses Briefes bin ich wohl zwanzigmal
aufgestanden, um etwas Entscheidendes zu finden. Es ist so schwer.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 315, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0315.html)