Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 314
Text
bescheiden wie Andere, denen die Gluth aus dem Herzen schlug.
Später muss es ihm doch wohl eine Freude gewesen sein, wenigstens
erreicht zu haben, dass die Jugend zu ihm als dem ersten Sprecher
für seine freien, herzenswarmen Ideale aufsah.
Im »Max Havelaar« erklingen Töne, die nur die Gewalt des
Schicksals erpresst. Es leuchtet aus ihm der Adel der Absicht, zu be-
weisen, dass »der Javane auch ein Mensch sei«, durch das Mittel der
Oeffentlichkeit die Regierung zur Abkehr von der Barbarei zu zwingen.
Einen Adel der Absicht tragen alle Werke Multatuli’s. Darum wurde
er allen Morschen, Mittelmässigen, Halben und Gewaltanbetern die
gefürchtete Geissel, den tyrannischen Mächten, ob sie auf dem Grunde
der Volksseele hausten oder als Personen das öffentliche Leben in der
Gewalt hatten, der fehdebietende Empörer. Da griff er meistens zur
Satyre. Hin und wieder ein neues Buch, seine Aufsätze und öffent-
lichen Vorträge liessen das Philisterium nicht aus dem Zustand der
Gänsehaut herauskommen. Seine Grobheiten trafen, denn man wusste
und fühlte, dass ein universeller, überlegener Geist sie sich erlaubte.
Wie ein Gewitter soll es über die Stadt dahingegangen sein, als er in
einem berühmt gewordenen Vortrage, dem die Notabeln Amsterdams,
Rathsherren, Richter, Kammer- und Gemeinderathsmitglieder, Lehrer
u. s. w. beiwohnten, Handlungen des Gemeinderathes in abfälligem
Sinne besprechend, zum Schlusse sagte: »Wisst ihr, was die Leute
verdient hätten?« und hier liess er, innehaltend, einen Augenblick
Spannung eintreten »Dass sie alle zum Fenster hinausgeschmissen
wurden!« So trat er ab. Den Ovationen entzog er sich, indem er
durch eine Seitenthür ins Freie trat. Beim nächsten Vortrag dieses
Cyklus blieben die reservirten Plätze unbesetzt.
Ein Jahr nach, dem »Max Havelaar« erschienen die »Minne-
brieven« (1861). Er hat hier, namentlich durch die neun Märchen
von der Autorität, seiner Weltanschauung lebhaft Ausdruck gegeben.
Er suchte stets die edle Forderung von La Mettrie zu erfüllen:
»Schreibe so, als ob du allein im Weltall wärest und nichts von der
Eifersucht und dem Vorurtheil der Menschen zu fürchten hättest.« Da
konnte ihm die Menge nicht folgen. Es war gewiss ganz ihr Tenor,
was in einem grossen Blatte resumirend also zur Geltung kam: » Wir
haben jetzt eben modernen Herostratus. Es ist die »Ichheit« von
Multatuli. Er vergreift sich an Allem, was dem Menschen theuer ist.
Er verkündigt die verderblichsten Morallehren. Er rennt an und tritt
nieder Alles, was die Nation, lieben und verehren gelernt hat. Er
leugnet Gott, Bibel und Evangelium. Er leugnet das Bestehen der
Seele, der Unsterblichkeit, der Seligkeit und erkennt nichts als sein
eigenes ‚Ich‘, seine Persönlichkeit als die alleinige Gottheit an, die er
beweihräuchert. Und wenn Multatuli in seinem Hochmuth und in
seiner Vermessenheit euch zuruft: ‚Publicum, ich verachte dich mit
grosser Innigkeit!‘ — was, denkt ihr wohl, wird die Antwort des
Volkes an ihn, Multatuli, sein? Es wird ihn aus dem Gedächtniss
streichen!«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 314, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0314.html)