Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 313

Multatuli (Spohr, Wilhelm)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 313

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MULTATULI. 313

deutung versagt. Da ging’s nicht mehr; kurz entschlossen reichte er
seinen Abschied ein, und am 4. April 1858 wurde er »auf Ersuchen,
ehrenvoll aus Landesdiensten entlassen« Ehrenvoll dem langsamen
Verhungern preisgegeben!

Nicht, um in schicklicher Weise sich seiner unerträglichen Lage
zu entziehen, that Dekker diesen entschiedenen Schritt. Multatuli war
in ihm erwacht, der durchaus künstlerisch empfindende Geist, den es
trieb, so lange es ihm das Leben vergönnte, die göttliche Flamme als
Flamme der Empörung leuchten zu lassen. Er kehrte nun nach zwanzig-
jähriger Abwesenheit von Europa nach Amsterdam zurück. Schweifte
er schon in Lebak, auf Recht wartend, hungernd und darbend mit
seiner Familie umher, manchesmal ohne Dach und stets in Unsicherheit,
ob er den folgenden Tag ein Obdach haben werde, so häuften sich
in Europa die Entbehrungen und Enttäuschungen. Aber Multatuli sass
auf seiner elenden Dachstube mit klopfenden Pulsen und fieberndem
Hirn und schüttete seines Herzens Empörung aus in das Buch »Max
Havelaar und die Kaffee Versteigerungen der nieder-
ländischen Handelsgesellschaft
«. O, quoll es da aus dem
Herzen! Nun wurde er wohl erst recht inne, wie theuer ihm seine
zweite Heimat geworden, wie sehr er das alles liebte, die schönen,
naiven Menschen, die übersprudelnde Kraft dieser südlichen Natur, wo
alle Farben intensiver leuchteten und die Träume von Tausend und
einer Nacht ihre Wirklichkeit hatten. Ja, alles das stand in dem Buche;
und aus diesen Wundern heraus klang das Seufzen und Stöhnen seiner
lieben Javanen, ihren Hass und ihre Flüche auf die christlich-nieder-
ländische Raubcultur fasste dies Buch, und die Flammen der Empörung
züngelten daraus hervor. Im Jahre 1860 schleuderte er es hinaus, eine
Vertheidigungs- und Anklageschrift künstlerischen Charakters, wie die
Weltliteratur keine zweite aufzuweisen hat. Er glaubte, sein Volk werde
aufstehen, um die Javanen zu retten und ihm Genugthuung zu ver-
schaffen. Er täuschte sich. Es fehlte nicht an lügenhafter Gegenagitation
seitens des ganzen philiströsen Elements, dem so viel freiheitlicher
Hauch im Leben nicht um die Nase geflogen war, es fehlte auch nicht
an klugem Stillschweigen der direct getroffenen Gegner. Doch Max
Havelaar, der Ankläger, hatte Tag für Tag einen Polizeiagenten hinter
sich, der seine Wege und Bewegungen bewachen musste; die Beschul-
digten sassen gespreizt im Gestühle der Ehre. Aber das Volk? Wo
blieb das Volk? Noch war Multatuli nicht reif zu sagen: »Publicum,
ich verachte dich mit grosser Innigkeit!« Er sollte in diesem Kampfe
die Liebenswürdigkeiten des trägen »man« erst ganz durchkosten.
Gewiss, es erhoben sich etliche Freunde, die einen weniger männlichen
Charakter wohl auch beruhigt hätten. Ihn beruhigten sie nicht; er
konnte zornig werden, wenn man ihm von seinem beispiellosen Künstler-
thum sprach; wieder einmal erstand hier ein Kraftgenie, das eine Art
Verachtung für die Relativität des menschlichen Aeusserungsvermögens
bezeugte; man sollte von seiner Angelegenheit reden, denn ihm war
ja die Kunstthat Mittel zum Zweck gewesen. Allein er musste sich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 313, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0313.html)