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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 317

Text

NOTIZEN.

»Die Bohème« von Ruggiero
Leoncavallo ist die letzte No-
vität unserer Hofoper. Nicht nur
der Zeit ihrer Aufführung, auch
der Qualität ihres Gehaltes nach.
Wüsste man nicht, dass die An-
nahme dieses Werkes seitens der
früheren Direction und Intendanz
erfolgte, so müsste man glauben,
dass Director Mahler mit der
Aufführung dieser Oper den rich-
tigen Weg verlassen habe, den er
bisher zur Bereicherung und Auf-
frischung des Spielplanes unserer
Hofoper eingeschlagen. Denn zur
Durchführung der Absicht, nur
solche Werke darin aufzunehmen,
aus denen, seien sie auch nicht
deutschen Ursprungs, eine stärkere
Begabung und ein edles künstleri-
sches Streben spricht, ist die Vor-
führung der »Bohème« Leoncavallo’s
ein entschieden falscher Schritt.
Das Werk ist für das Publicum ge-
schrieben. Aber nicht einmal mit dem
nöthigen Geschick — das den »Pa-
gliacci«, welche den Ruf des Compo-
nisten begründet, nicht abgesprochen
werden kann. Grössere Formen er-
fordern eben ein weiter reichendes
Talent. »Die Medici« Leoncavallo’s
haben das letztere nach der tragi-
schen Richtung hin stark in Frage
gestellt. »Die Bohème« compromittirt
seine Begabung für die echte ko-
mische nicht weniger als für die
lyrische Oper. Die Dichtung, vom
Componisten selbst beigestellt, nicht
ohne Geschick in der Verwerthung

mancher Figuren aus der »Bo-
hème« Henry Murger’s, der sie
entlehnt ist, zeigt eine bedenkliche
Redseligkeit und grosse Unbeholfen-
heit im Zusammenkleben humori-
stischer und tragischer Motive.
Statt als echter Künstler einen
Grundton zu finden, der nach
beiden Seiten auszuweichen ver-
mag, lässt Leoncavallo unver-
mittelt zwei hysterisch lustigen
Acten zwei andere tragischen oder
eigentlich lamentablen Charakters
folgen. Mit seiner Musik glaubt
der Componist wagnerisch zu
sein, indem er den ganzen wort-
reichen Text durchcomponirt und
nur dort eine Anlehnung an alte
Formen sucht, wo durch vielfach
erzwungene Anlässe, Lieder oder
Chöre zu singen, zur Anwendung
solcher Gelegenheit geboten ist.
Dagegen liesse sich kaum viel ein-
wenden, wenn das Niveau seiner
Einfälle öfter, als es geschieht, über
das der Operettenmusik sich er-
höbe, wenn die Sprache seiner
Musik seine eigene und, dem Ge-
genstand entsprechend, Feinheit
und echte Lustigkeit oder von
Grazie durchstrahltes Empfinden
aus ihr vernehmbar wäre. Diese
ersehnten Züge suchen wir freilich
vergebens in der Partitur des
Componisten. Auch sein Orchester,
so viel er sich um die Instrumen-
tation bemüht, klingt monoton.
Mit Blech und namentlich mit der
Harfe, diesem edlen von grossen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 317, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0317.html)