Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 312
Text
Von Wilhelm Spohr (Friedrichshagen).
Multatuli! — Viel hab’ ich ertragen! — Schon dieser Name
des holländischen Genies verräth uns, dass ihm die Gegend Calvarien
sehr vertraut war. Seine Lebensgeschichte ist auch in Wahrheit die
Geschichte der Tyrannen, des Publicums und der Heuchelei. Das
schwere Schicksal hat aus dem hochstehenden Colonialbeamten Eduard
Douwes Dekker den Dichter: Multatuli gemacht.
Eduard Douwes Dekker wurde am 2. März des Jahres 1820 zu
Amsterdam als der Sohn eines Kauffarteicapitäns geboren, besuchte das
Gymnasium, wurde aber schliesslich nach dem Willen seines Vaters
Kaufmann. Das hielt er nicht lange aus, und er zog dem ihm innig
verhassten Kaufmannstande das Kämpfen um einen neuen ungewissen
Beruf vor. Achtzehn Jahre alt, landete er auf der Insel Java im ost-
indischen Archipel und wurde Colonialbeamter in Diensten seines
Vaterlandes. Jetzt ging’s von der Pike auf; im Jahre 1840 war er ein
simpler Schreiber in der königlichen Rechenkammer zu Batavia, aber
schon 1851 war er »Adsistent-Resident, Magistrat en Commandant der
schutterij« zu Amboina und bekleidete später denselben Posten im
Bezirke Lebak auf Java. Er sah nun überall viel Schmach und Elend
und hoffte nun durch den Einfluss seines hohen Staatsamtes viel
bessern zu können. Es gährte in ihm: »Der Javane wird misshandelt.
Ich will dem ein Ende machen!« — Ach, er war ein schlechter
Diplomat und Rechenkünstler; wähnte wohl, man möchte seinen recht-
schaffenen Plänen ein Ministerportefeuille zur Verfügung stellen, damit
schneller und gründlicher gearbeitet werden könne; es kam anders:
Multatuli, der sich den Brandschatzungen des Landes durch die Be-
amten unter und über ihm mit voller Kraft entgegenstemmte, Multatuli
brach den Hals. In den Briefen dieser Zeit jagen sich Hoffnung und
Bitterkeit. Es ist unglaublich, mit welcher Unverfrorenheit die zustän-
digen Organe der holländischen Regierung den Klagen Dekker’s ihr
Ohr verschlossen. Es heisst in seinen Anschuldigungen klipp und klar:
Resident Soundso und die Beamten Soundso haben dem Eingeborenen
Soundso die Büffel gestohlen, ihn zugrunde gerichtet und soundso das
Schweigen von ihm erpresst; dort und dort wurden Weiber vergewaltigt
und ermordet Kein Mensch rührte sich, sein nächster Vorgesetzter
nicht, der Generalgouverneur nicht, der König nicht. Er stand mit
seinem edlen Zorn vor dem diplomatischen Lächeln seiner Oberen,
als sei er nicht mehr als ein Hans Tollpatsch, den man ungestraft die
unsinnigsten Anschuldigungen erheben lässt, weil man ihm jede Be-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 312, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0312.html)