Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 319

Deutsches Volkstheater Anlässlich des Gastspieles der Yvette Guilbert

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 319

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NOTIZEN. 319

hinfälliger Gemeinplatz geworden,
von dem nach der grundlegenden
Ibsen’schen »Nora« nicht wieder
die Rede sein sollte. Nicht die
Liebe ist todt, sondern das, was
man bisher dafür hielt. Hätte
Bracco in diesem Sinne eine sa-
tirische Komödie geschrieben, so
wäre auch bei seinen unzulänglichen
dichterischen Mitteln wenigstens
die Intention eine moderne ge-
wesen. Sein Charakterisirungsver-
mögen ist ein schwaches. Das Ge-
fühl dieser Schwäche treibt ihn
zur Satire; er stellt sechs ganz
gleiche, nur am Theaterzettel
unterschiedene Männer, die nicht
»lieben« können, auf die Beine und
macht so aus der Noth eine witzige
Tugend. Anderseits kommt im
ganzen Stück nur Ein Frauenzimmer
vor, das alle unbefriedigten Launen
ihrer abwesenden Mitschwestern
durcheinander wirft. Eine solche
satirische Mischmasch-Person ent-
hebt ihren Schöpfer, sie gegen
andere weibliche Individualitäten
naturgemäss abzugrenzen. Im Volks-
theater hatten Frau Odilon und Herr
Giampietro die Hauptrollen inne.
Jene gibt zur Abwechslung eine an-
ständige Frau, dieser ihren unsoliden
Ehemann. Abgesehen davon, dass
sie diese Rolleneigenschaften nicht
glaubhaft machten, mangelt ihnen
das Pointirungstalent einer vergan-
genen Schauspielergeneration, ohne
es durch natürliches Worttempo
ersetzen zu können.

—i— .

Anlässlich des Gast-
spieles der Yvette Guil-
bert. Auch unsere Wiener Recen-
senten sind von Yvette Guilbert
ganz berauscht. Irgend einer von
ihnen hat im »Figaro« das geniale
Wort »la grande diseuse« ge-

lesen, und da die Herren froh
sind, wenn ihnen Jemand die Ar-
gumente ihrer Begeisterung zum
Bewusstsein bringt, so füllen sie
nun die Spalten ihrer Journale
mit langen Berichten, worin sie
die erschöpfende Kritik, welche
das kurze Wort: »la grande di-
seuse« enthält, in hundert kleinen
Exempeln verwerthen. Sie be-
wundern, wie die Yvette das Wort
behandelt, so dass es sich in
seinen vollen Sinn, in seiner
vollen Lyrik, in seiner ganzen
Melodik erschliesst. Welche Tra-
gödie weiss sie in dieses eine
Wort: la sou-l-aaa-r-d-e zu legen!
Sie kann reden, weil sie
zu jedem Worte die be-
gleitende Empfindung aus-
zudrücken vermag
Aber
weshalb haben unsere Recensenten
gar so viel von ihrem Mienen-
spiel gesprochen? Bei diesem
Auftreten der Yvette ist ja noch
Jemand zu Gast gewesen, für den
die Deutschen momentan gar
keinen heimischen Ersatz wissen:
das Volkslied. Nun versteht es
sich von selbst, dass die Herren,
einen oder den anderen ausge-
nommen, über dieses Thema mit
ein paar lyrischen Zeitungswen-
dungen hinwegzukommen suchten.
Wie lange ist es denn her, dass
sie, die heute über die Guilbert
ins Allgemeine schwätzen, fran-
zösische Lectionen, wenigstens für
die Anfangsgründe, genommen
haben? Gerade jetzt, wo die
Herren ein solches Geschrei über
den Verfall der französischen
Cultur (welcher Journalist denkt
sich bei diesem Worte etwas?)
veranstalten, muss man daran er-
innern, dass wir an Stelle dieser
Chansons, welche künstlerische

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 319, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0319.html)