Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 335
Text
dachte ich eines Tages, als er vorüber ging, dass der Regenbogen,
dass die Geometrie selbst nicht schöner sein kann, als diese wandelnde
Ehrlichkeit, engbegrenzt, wie sie ist.
1841. Ich bin es müde, mit Leuten zu thun zu haben, von denen
jeder in seine besondere Geisteskrankheit eingeschachtelt ist. Da kenn’
ich einen prächtigen Menschen mit wunderbaren Gaben, aber wahn-
sinnigen wie die Anderen und noch wahnsinniger, und eben in Folge
seiner Genialität, die er auch als Waffe benützen kann, schwerer zu
behandeln. Am liebsten möchte ich als Wohlthäter mit ihm verkehren,
bloss um mich selber zu schützen und zu bewahren, denn dann wäre
ich ihm gegenüber im Vortheil und könnte mit ihm nach meiner
Weise umgehen, so dass seine Verrücktheit mich nicht quälen könnte.
Ich weiss wohl dass dieser Wunsch nicht gross, sondern kleinlich ist,
dass er eine blosse Entschuldigung dafür ist, dass ich ihn nicht offen
und männlich behandle; aber ich bin eben nicht gross genug, um ihn
fest und kalt als einen Patienten zu behandeln, und wenn ich ihn als
gleich und gleich, sympathisch wie einen Gesunden behandle, so
macht seine Krankheit ihn zum unerträglichsten Menschen.
1862. Ich liebe Leute, die eine Sache thun können. Als Edward
und ich uns vergeblich abmühten, unser grosses Kalb in die Scheune
zu ziehen, steckte die irische Magd ihm den Finger in den Mund
und führte es geradewegs hinein.
1847. Es scheint oft, als ob Abweisen, unerschütterliches Ab-
weisen uns am nöthigsten wäre: wähle deinen Platz gut, stehe fest
bei deiner Aufgabe, und lass alles Andere in Trümmer gehen, wenn
es will; Augenblicklich wird sich die boshafte Welt in eine weite
Schlinge und Versuchung verwandeln, entgehe ihr wer kann!
Mit gebeugter Stirn, mit festem Vorsatz geh’ ich sinnend auf
dem Gartenweg. Ich bücke mich, um ein Unkraut auszureissen, dass
das Korn erstickt, und finde, dass es zwei sind; dicht dahinter ist
ein drittes, und ich strecke meinen Arm nach einem vierten aus: hinter
dem sind viertausendundeins. Ich werde erhitzt und verstimmt, und
nach und nach erwach’ ich aus meinem idiotischen Traum von Hühner-
kraut und Blutwurz, und finde dass ich mit meinen stählernen Vor-
sätzen selber Hühnerkraut und Pillenfarn bin.
1841. Manchmal bin ich unzufrieden mit meinem Hause, weil es
an einer staubigen Strasse und mit Keller und Thürschwellen beinahe
im Wasser der Wiese liegt. Aber wenn ich daraus in die Nacht oder
in den Morgen hinauskrieche und sehe, was für majestätische und
was für zarte Schönheiten mich täglich an ihrem Busen einhüllen, wie
nahe mir jedes transcendente Geheimniss aus der Religion und Liebe
der Natur ist, dann sehe ich erst, wie gleichgiltig es ist, wo ich esse
und schlafe. Diese Strasse mit ihren Buden und Schenken verwandelt
der Mond in eine Palmyra, denn er ist der Apologet aller Apologeten,
und er küsst nur die Ulmen allein und hüllt alles Niedrige in silber-
gerändertes Dunkel. Dann nimmt der gute Flussgott die Gestalt meines
tapferen Henry Thoreau an und führt mich in die Reichthümer seines
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 335, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0335.html)