Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 336

Aus dem Tagebuch (Emerson)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 336

Text

336 FEDERN.

schattenhaften sternbeschienenen Stromes ein, eine liebliche neue Welt,
die so nahe und so unbekannt neben der abgedroschenen Alltags-
welt von Strassen und Läden liegt, wie der Tod neben dem Leben,
wie die Poesie neben der Prosa. Durch ein Feld gelangten wir zum
Boot, und dann liessen wir alle Zeit, alle Wissenschaft, alle Geschichte
hinter uns und huben mit einem Ruderschlag ein in die Natur. »Gib
Acht, guter Freund!« sagte ich, als ich nach Westen sah in den Sonnen-
untergang zu Häupten und tief unten im Wasser, und er mit dem
Gesicht gegen mich darauf zuruderte. »Gib Acht, du weisst nicht, was
du thust, wenn du dein Ruder in dieses verzauberte Gewässer tauchst,
das in jedem Roth und Gold und Purpur spielt, die unter und hinter
dir glühen.« Plötzlich verschwand diese Herrlichkeit, und die Sterne
kamen und sagten: »Hier sind wir.« Diese verführerischen Sterne,
wahrsagend, schmeichelnd, überredend, die, obgleich ihre Versprechen
noch keine menschliche Erfahrung wahr gefunden hat, doch nicht
widersprochen, doch nicht geschmäht, ja nicht einmal angezweifelt
werden können. Alle Erfahrung ist gegen sie, und doch ist ihr Wort
Hoffnung und lässt die Erfahrung alle Zeit als Lügnerin erscheinen.

1866. Ich liebe die Art meines Nachbars T.; er hat keinerlei
Zuvorkommenheit, aber sehr viel Güte, so dass klar ist, dass seine
Gefälligkeit aus keiner Rücksicht auf den Anderen, sondern nur aus
seinem Wesen entspringt.

Selbstachtung hat immer etwas Imponirendes. Ich beobachte das
hier in einer sonst wenig bekannten Familie, deren Mitglieder alle,
ohne andere Gaben oder Vortheile, diese an Stelle aller anderen be-
sitzen; und so lehren, dass Reichthum, Eleganz, Wissen, Talent, Gärten,
ein schönes Haus, Diener, Alles erspart werden kann, wenn einer nur
die ruhige Entschlossenheit besitzt, seinen eigenen Weg mit Verstand
und Energie zu wahren. Das Beste davon ist, dass die Familie, von der
ich spreche, davon gar keine Ahnung hat.

1854. Die Art, in der jenes Mädchen die Schule hält, war die
beste Lection, die ich heute in der Vorbereitungsschule empfing.1) Sie
wusste so viel und hatte es so gut im Kopf, und gab es so gern her,
dass die Schülerinnen genug darüber zu denken hatten und kein
Moment blieb, den sie mit Geräusch und Unordnung hätten vergeuden
können. Das ist entschieden das beste Recept für Schuldisciplin, das
ich kenne.

Zum Schluss meiner heutigen Rede sagte ich, dass das Ziel
aller städtischen Einrichtungen und der Stadt selbst Erziehung sei.

1864. Zuerst ist darauf zu sehen, dass die Ausgaben fürs Lehren
gemacht werden, d. h. dass die Schule für die grösstmögliche Zahl
von Tagen und Schülern da sei. Dann, dass die besten Lehrer und
die besten Einrichtungen verschafft werden Schule, ja, weil sie
der Cultus unserer Zeit, unseres Landes ist, wie der Staat› wie die


1) Emerson war Schulinspector in Concord. Diese Bemerkungen sind sehr
charakteristisch für den freien Geist, in dem die amerikanischen Schulen geleitet
werden.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 336, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0336.html)