Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 354

»Ohne alle Opportunitäten« (Egidy, M. von)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 354

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354 EGIDY.

bin ich zu der Erkenntniss gelangt, dass der Opportunismus eine der
giftigsten Fasern in dem Wurzelgewebe unserer heutigen Lebens-
anschauungen, Lebensregeln, Lebensgesetze ist, und stehe heute im
ernsten, überlegten, planmässigen Kampf gegen alle Schädigungen im
Einzel- wie im Volks- wie im Leben der Völker, die sich auf diese
Giftfaser zurückführen lassen. Mit einiger Gedankenübertragung lassen
sich alle Schäden auf den Opportunismus zurückführen.

Der Opportunismus darf hiebei nicht verwechselt werden mit
einem rechtschaffenen, vernünftigen, eingestandenen Nützlichkeits-
verfahren; wie überall sind auch hier die Grenzen zwischen dem einen
und dem anderen flüssig. Wer sich zu innerer Wahrhaftigkeit, zur
Wahrhaftigkeit gegen sich selbst erzogen, wird nie im Zweifel sein, ob
rechtschaffene Nützlichkeitserwägungen oder unwürdiger Opportunismus
sein Handeln bestimmten. Der Opportunismuss setzt sich zusammen aus
Unwahrhaftigkeit, Eitelkeit, Streberei, Genusssucht, Bequemlichkeit. Das
Alles erstickt im Einzelnen — ungewollt und unvermerkt — die besseren
Gegentriebe: Wahrhaftigkeit, Tapferkeit (innere), Einfachheit, Beschei-
denheit, Geradsinnigkeit, Zähigkeit, das lässt den Gerechtigkeitssinn, weil
nicht gepflegt, verkümmern; das ertödtet schliesslich die Fähigkeit, mit zu
leiden, tödtet das Mitleid. Bald ist der schlaue, glatte, farblose, liebens-
würdige (aber nicht liebenswerthe), »höchst traitable«, für jeglichen Macht-
haber bequeme, zuweilen auch der zwar ebenso schlaue, aber polternde,
rüde, seine innere Unwahrhaftigkeit durch äussere Grobheit überschreiende
Opportunist fertig. Anfangs, bis er im Strom ist, vielleicht noch mit
Aufwendung einiger Energie, bald aber hat er auch das nicht mehr
nöthig. Je nachdem lassen ihn seine Eigenschaften und Talente steigen,
jedenfalls aber schützt ihn eine sich immer mehr ausbildende Scrupel-
losigkeit vor Untergang. Ohne dafür den Einzelnen verantwortlich machen
oder mehr Schuld ihm persönlich zusprechen zu wollen, als ihn nach
dem Bewusstsein seiner Verfehlung trifft, dürfen wir uns über die
Schädigungen, die der Opportunismus unserem Volksleben verursacht,
nicht im Unklaren sein. Ob wir dabei vom Idealen oder vom Materiellen,
dem Volkswirthschaftsleben, ausgehen, ist gleich. Beides hängt inniger
zusammen, als man gemeinhin glaubt. Das Eine ist der innere Mensch
in seiner weitesten Fassung, das Andere ist der äussere Mensch, sind
die Daseinsbedingungen in weitester Fassung. Wie der innere Mensch
mit dem äusseren in untrennbarer, einander bestimmender Beziehung
steht, so wirkt der Idealismus bestimmend auf die Gestaltung unseres
äusseren Lebens.

Der Opportunist hat dem entsagt, was für den Kraftmenschen
das Leben lebenswerth macht: der Selbstständigkeit und der Unab-
hängigkeit; er ist unfrei, ist Knecht, ist Sclave, und weil er es selbst
ist, will er auch die Anderen in Abhängigkeit, Unterdrückung, Un-
selbstständigkeit erhalten; er will, weil er selbst beherrscht ist, auch
herrschen. Dagegen lehnt sich der erwachte Drang nach Unabhängigkeit
und Selbstständigkeit auf. Mögen die Massen sich darüber selbst auch
noch kaum im Klaren sein, mag immerhin es die sogenannte Magen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 354, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0354.html)