Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 355

»Ohne alle Opportunitäten« (Egidy, M. von)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 355

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OHNE ALLE OPPORTUNITÄTEN. 355

frage sein, die die erste und empfindsamste Anregung zur Auflehnung
gegen das Bestehende gibt, die eigentliche Idee, die den Wandlungs-
bestrebungen der Gegenwart zugrunde liegt, ist das Verlangen nach
Unabhängigkeit und Selbstständigkeit des Individuums, der Gemeinde,
des Volkes. Und weil dieser Drang sich nicht auf das Materielle im
Leben allein beschränkt, vielmehr als eine Art »neuer Trieb« aufzu-
fassen ist, der sich in der Menschheitsentwicklung regt, beschränkt sich
auch die Auflehnung gegen das Bestehende keineswegs auf diejenigen, die
das Unzulängliche der Gegenwart an »ihrem eigenen Leibe erfahren
haben«. Die Idealisten, diejenigen, die das Unzulängliche mit ihrem
innersten Empfinden täglich durchleben und es mit einem klaren, gerad-
linigen Denken begriffen haben, stehen im Ringen nach einem Neuen
neben den wirthschaftlich bisher Vernachlässigten. Unter Idealisten
selbstverständlich nur diejenigen verstanden, die thatfroh nach Ver-
wirklichung ihrer Ideale drängen; die anderen, die nur Empfindungs-
idealisten, zählen nicht; sie sind ein Hemmniss für die Entwicklung.
Die gesunden und entwicklungsgläubigen, diese ehrlichen und streitbaren
Thatidealisten aller Culturvölker aber, treten heute mit unerschütterlichem
Ernst für das Selbstbestimmungsrecht des Individuums (auch der
Frau
) und des Volkes ein. In ihnen mögen die Opportunisten ihre
entschlossensten Widersacher sehen. Es ist falsch, dem Idealismus den
Realismus gegenüber zu stellen; der Realismus bedeutet die Umsetzung
der Ideale in Leben; der Opportunismus ist der finstere Gegensatz
zum lichten Idealismus.

Darum ist »ohne alle Opportunitäten« heute in der That das
würdigste Leitwort für Jeden, der eintreten will in den Kampf für
neue Lebensgesetze. Hier setzt meine Behauptung ein: die Mittel,
die wir zur Erreichung eines Neuen anwenden, müssen
den Charakter und das Gepräge des Zustandes tragen
,
den wir anstreben. Handelt es sich bei den Wandlungsbestrebungen
der Gegenwart um einen abermaligen Aufstieg in der Gesittung, sind
wir unklar darüber, dass wir aus unseren bisherigen Lebensregeln die
Unwahrhaftigkeit (auch die innere), die Scrupellosigkeit, die zweierlei
Moral (eine private und eine öffentliche) ausscheiden wollen, so muss
auch die Art unserer »Bewegung auf das Ziel hin« ihren Charakter
einer höheren Auffassung von Gesittung deutlich erkennen lassen. Die
Notiz in Nr. 6 trifft auch in dieser Beziehung den springenden Punkt,
wenn sie davon spricht, dass ich einen »organischen Zusammenhang
zwischen meinen ganz privaten und meinen öffentlichen Anschauungen
zeige«. Hier soll der Wandel einsetzen. Gegen die zweierlei Moral, des
Opportunisten: die Moral, die er innerlich, gelegentlich auch in Worten,
anerkennt, aber nur bei gewissen (privaten) Veranlassungen bethätigt,
neben der Moral, nach der er sein öffentliches, sein amtliches, ge-
schäftliches, staatliches, kirchliches, geselliges Leben regelt, kämpft der
Idealismus der Gegenwart an.

Das neue Jahrhundert und die Folgezeit braucht im Zusammen-
hang mit dem sich bahnbrechenden neuen Gottesbegriff einheitliche

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 355, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0355.html)