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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 367

Text

WIE JONAS LIE LEBT UND DICHTET. 367

Holskogen gilt als »ein herrlich versteckter Einschnitt des salzigen
Meeres. Zwischen schlanken Eichenstämmen, mit Epheu an den
Mauern, zwischen alten Apfelbäumen und Zierbüschen liegt ein Häuflein
alter, kleiner Häuser. Malerisch und einsam; bezaubernde, erhebende
Stille. Mächtige Fjelle, lächelndes Wasser, bergender Wald und ehr-
würdige, wohlthuende Bäume«.

»Hier bin ich also wieder in Norwegen,« schreibt Lie privat,
»so unbegreiflich wieder hier. Gerade vor meinem Fenster die Hols-
kogbucht, die tief und schmal und blank zwischen lauter wald-
bewachsenem Gebirg direct zum Meer hinab geht, das ich sowohl sehe
als höre. Dampfschiffspfeifen und Signale vom Oxöer Nebelhorn. Ich
habe sie auch schon durchangelt, bis die Prame in die Deiningen hinaus
kam und die Luft voll Meeresbrausen wurde, habe jeden Tag in der
salzigsten Nordsee gebadet und bin auf der anderen Seite im Wald’
drin auf dem eine halbe Meile langen Rossewasser gerudert, das voll
ist mit waldbekleideten Inseln — und auch voll mit Forellen, sagen
sie; ich aber fing noch keine.« In der Nähe des Hauses lag ein
kleiner Besitz, der Ole Bull gehört hatte. Für Lie eine angenehme
Erinnerung. Noch stärkeren Eindruck aber machte es ihm, dass er in
der Nähe von Holskogen auf Erinnerungen an Henrik Wergeland
stiess. Der benachbarte Herrenhof Kjos war voll davon. Hier befand
sich die »Krystallgrotte«, die der grosse Dichter in seinen »Haselnüssen«
erwähnt; hier war die Stätte, wo die von Wergeland und seiner
ersten Flamme zusammengeschlungenen Bäume standen. Diese Stätten
waren in Jonas Lie’s Augen »die grösste Zier und Merkwürdigkeit«
des Herrenhofes.

Ganz selbstverständlich.

Im Grunde muss es für Lie ganz eigen gewesen sein, hier auf
Wergeland’s Spuren zu stossen. Es muss gewesen sein, als stünde er
plötzlich von Angesicht zu Angesicht seiner Jugend gegenüber — dem
Ausgangspunkt seines geistigen und dichterischen Lebens.

Und es war ihm gewiss ein Stolz, sich sagen zu können, dass
er bei dieser Begegnung die Augen nicht niederzuschlagen brauchte.
Nicht bloss stand er nun als Meister da, der den kühnen Traum seiner
Jugend erreicht hat; was mehr ist, mit dem Siegerkranz auf dem Haupt
war er in Geist und Herz gleich jung, gleich vertrauensvoll und warm
geblieben und hatte auf der langen Fahrt im Cours nicht fehlgegriffen.

Denn das darf er sagen.

Was er bei Wergeland gelernt, weil es gerade das gewesen, was
er zuinnerst in sich selbst trug, das hat er weder vergessen noch ver-
rathen; er steht nach allem Kampf mit gerettetem Glauben da und
seine Liebe ist nicht kalt geworden: die Liebe zu Geist, Wahrheit,
Freiheit und zu Norwegen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 367, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0367.html)