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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 377

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DER MUTH. 377

geheime Zauber, den alle wahren und falschen Propheten auf die
Menge ausgeübt haben, auch alle wahren und falschen Genies, für die
sich noch immer Leute geopfert haben. Ob das Ideal ein Mensch, ein
Gott, ein Begriff, ob es die Zukunft oder die Wissenschaft ist, ob das
Volk oder die Kunst, gleichviel, es gibt Muth, weil es ein Leben be-
jaht, welches sonst den Aufschwung nicht gehabt, den der Muth er-
heischt. Das elendste Weib, das sich für ihr Kind, ein Volk, das sich
für seinen Fürsten, ein Diener, der sich für seinen Herrn, ein Gelehrter,
der sich für die Wissenschaft in Gefahren stürzt, ein Dichter, der
hungert um der Kunst willen, sie alle nehmen ihren Muth von dem
Abglanz des Höheren, Zukünftigen. Sie opfern sich, weil sie ein neues
Mass haben, an dem gemessen ihr Leben relative Bedeutung erhält.
Man riskirt Glück und Leben für ein Ideal, wie man ein Glied riskirt
für das Leben. Es thut nichts zur Sache, dass man das Wort Ideal
meist mit einem andern weniger edlen übersetzen kann — Eitelkeit.
Die Eitelkeit ist beinahe die reichste Quelle des Muthes. Beweis: die
endlose Zahl darbender Künstler und Gelehrten, die alle um des Ruhmes
willen eine gefahrvolle Existenz führen und denen weder spätere Erfolge
und noch weniger ihre Talente das Recht zu solchem Leichtsinn
geben. Es ist hier wie überall im Leben das Bild des Krieges:
Tausende müssen Muth bewähren, aber nur wenigen lächelt der Sieg.

3. Der Muth, welcher Glauben ist. Auf diesen Muth hat
sich noch jede geniale That aufgebaut. Er ist der Sternenglaube des
Genies: »Du trägst Cäsar und sein Glück.« Er ist sein Mysterium,
dessen Kraft ist ein kosmisches Grundgefühl, eine geheime Gleichsetzung
und Verwechslung des Ichs mit dem Weltall, welches ja doch jenseits
aller Gefahren und Zufälligkeiten steht. Völker haben dieses Gefühl
gehabt und Individuen, die Römer und Napoleon, alle Secten und
alle Religionsstifter. In diesem Gefühle wurzelt aller Aberglaube, alle
Kraft und aller Muth. Er zog den Karavellen des Columbus voraus
und leitete einen Lafayette sein ganzes Leben lang, der immer auf dem
Platze war, wenn die Freiheit siegen wollte. Dieser Muth ist eigentlich
eine feine Witterung des Erfolges. Er ist eigenthümlich den Menschen,
die auf der Sonnenseite des Lebens geboren sind. Im gemeinen Leben
kommen sie häufig in den Geruch der Schmeichelei, der Charakter-
losigkeit und sogar der Feigheit. Aber da man doch im Vorhinein nie
etwas über den Erfolg wissen kann, muss immer auch Muth dabei sein.
Dass dem Einen das Gefühl ein sicherer, dem Andern ein falscher
Prophet ist, macht nur zweierlei Arten von Menschen aus. Unselige
Naturen verlässt oft gerade dann der Muth, wenn sie einen Erfolg
sehen. Die moralische Bewerthung des Muthes geht uns hier nichts an.
Aber dass nichts den Muth anbläst wie ein Erfolg, kann man jeden
Tag erfahren, in der Politik wie in der Kunst, im Geschäftsleben wie
im Kriege, der ja oft schon durch die erste Schlacht entschieden ist.
Aus dieser Erfahrung resultirt z. B. das ganze Reclamewesen, das ja
die Tendenz hat, den Unternehmer- und den Käufermuth zu reizen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 377, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0377.html)