Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 378
Text
Von Peter Altenberg (Wien).
Ein kleines Fräulein sprang auf den Dichter zu und
sagte: »O Herr! Ich möchte — — —.O Herr, ich möchte
mit Ihnen eine schweigende Runde machen durch die Säle,
durch die lärmenden ungestümen Tanzsäle, durch die wie-
hernden Säle vor Festesfreude, durch die Säle — Meere mit
Heringszügen, die hin und her schiessen und glitzern wie
im Ostmeer — — — schweigend, schweigend, eine schweigende
Runde, o bitte — — —.«
Er zögerte, wurde verlegen, wünschte eine kluge ex-
ceptionelle Rolle zu spielen, zugleich jedoch sich der Natur
hinzugeben, der Forderung des Momentes.
»Eine einzige Runde. Schweigend. O bitte. Wie Feuer-
wächter um Eins.«
»Kommen Sie — — —.«
Sie gingen schweigend durch die jauchzenden Säle
vor Festesfreude. Eine einzige Runde: durch den »französi-
schen« Saal, den »deutschen« Saal, den »Almboden«, wo
man »Tirol« copirte, die Speisesäle, die kleinen Gänge, die
kühlen, leeren Vorräume, die warmen kleinen Buschen-
schänken, die verlorenen Rumpelkammern, diese Friedhöfe
verstorbener Festlichkeiten — — —.
»Ist es Ihnen zuwider?!«
»Pst — — —.«
Er verbeugte sich, am Ausgangspunkte angelangt,
ging. Er hatte keine Idee, ob er eine kluge Rolle durch-
geführt oder der Natur sich hingegeben habe, den Forde-
rungen des Momentes.
Sie, mit dem Herzen voll von »Lederstrumpfs Er-
zählungen«, »Maria Stuart«, »Les malheurs de Sophie«,
fühlte: »Ich habe mit dem Dichter eine schweigende Runde
gemacht. Nacht vom 21. Februar zu dem 22. Februar. So,
jetzt ist Alles gut; nein, jetzt ist Alles vorüber.«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 378, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0378.html)