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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 372

Text

DER MUTH.
Eine Analyse von Leo Berg (Berlin).

Der Muth ist keineswegs immer dasselbe. Es gibt sehr verschiedene
Arten von Muth, den man namentlich von drei Gesichtspunkten aus
betrachten kann: in seinem Verhältniss zum Bewusstsein, d. h. der
Kenntniss der Gefahren, die er überwinden soll, zum Interesse und
endlich zur Bewertung des Lebens.

I.

Aus dem Verhältnisse des Muthes zum Bewusstsein resultiren
wieder drei Unterarten von Muth. Das Wesentliche dieses Muthes ist
seine Activität, die Entschlossenheit zum Anfang. Seine drei Phasen sind:

1. Der Muth, welcher eigentlich Unerfahrenheit ist. Die Un-
kenntniss von Gefahren und Widerwärtigkeiten macht muthig. Das ist
der Muth des Kindes, des Jünglings, des Ungebildeten, des vom
Schicksal noch Verschonten. Man geht muthiger das erstemal zum
Zahnarzt als das zweitemal, die Frau benimmt sich muthiger beim
ersten Kinde als beim zweiten. Das ist der Muth, durch den oft Kinder
die Alten, zarte Frauen die starken Männer beschämen. Kinder und
kleine Hunde gehen am ehesten drauf los. Mit den Jahren schwindet
Völkern und Individuen der Muth. Alte Leute sind gewöhnlich feige,
und ebenso Menschen, welche schon öfters Pech gehabt haben, als
Krankheit, Armuth, Gefängniss. Erfahrung an sich und Andern ent-
wurzelt den Muth.

2. Der Muth, welcher Drill ist. Alle Berufsmenschen sind
irgendwie muthig, denn sie sind auf gewisse Gefahren dressirt. Hier,
umgekehrt, erwächst der Muth gerade aus der Kenntniss des Lebens.
Man ist muthig, weil man die Mittel und weil man Uebung hat,
bestimmten Gefahren zu begegnen, weil man in bestimmten Ver-
hältnissen Bescheid weiss. Das ist der Muth des Seemanns, welcher
das Wasser, des Feuerwehrmanns, welcher das Feuer als sein spe-
cifisches Thätigkeitselement kennt, das ist der Muth des Arztes, welcher
mit Giften umzugehen weiss, des Kaufmanns, welcher die Geldver-
hältnisse beherrscht, des Diplomaten, welcher die Fäden der politischen
Intriguen durchschaut. Um diesen Muth pflegen sich die verschiedenen
Berufskreise gegenseitig zu beneiden, gegenseitig zu fürchten und gegen-
seitig zu verachten. Der Seiltänzer, der über schwindelnde Abgründe
schreitet, ist an sich nicht muthiger als eine Krankenpflegerin, die bei
einem Fieberkranken wacht oder ein Schauspieler, der vor tausend
Menschen sich producirt. Der Seiltänzer hätte wahrscheinlich nicht den

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 372, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0372.html)