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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 373

Text

DER MUTH. 373

Muth zu dergleichen. Man kann sich auch zu halsbrecherischen Arbeiten
dressiren. Aber aus dieser Dressur leitet jeder für sich den besonderen
Anspruch auf Bewunderung seines Muthes her. Man begreift oft nicht
einmal den Muth, der zu einer anders gearteten Lebensaufgabe gehört.
Der Soldat, der seinen Muth gerne preisen hört in Liedern und Reden,
ahnt nicht, dass und welch ein Muth dazu gehört, eben diese Lieder
und Reden zu machen und mit ihnen hervorzutreten. Heute soll
gar der Muth des Kneifens höher stehen als der des Zweikampfes,
und der Selbstmord aus Feigheit entstehen, weil es Fälle geben
kann

3. Der Muth, welcher im Gefühl von Kraft besteht. Wer
sich stark weiss, ist gewöhnlich auch muthig; nur nicht immer so
sehr, dass er, auch nach dem Relativitätsverhältniss gemessen, noch
Grund hat, sich etwas besonderes darauf einzubilden. In einem Punkte
freilich ist der Muth scheinbar immer dasselbe, nämlich wo es sich
um Leben und Tod handelt. Aber das Leben selbst, das der Einzelne
zu verlieren hat, ist ja nicht immer dasselbe; und wer das Leben ein-
setzt, denkt es nicht gleich zu verlieren, und im Verhältniss zu seiner
Stärke hat er Aussicht es zu erhalten; und eben dieses Verhältniss
macht, dass der Eine als muthig erscheint, wo der Andere als feige
ausgeschrien wird. Wo es sich um körperlichen Muth handelt, steht
die Empfindlichkeit im umgekehrten Verhältniss zur Kraft. Kinder,
Kranke, Frauen schaudern vor körperlichen Züchtigungen und Gefahren,
die einen starken Burschen noch nicht veranlassen, das kleinste Ver-
gnügen aufzugeben. Aus der Erkenntniss dieses Verhältnisses ist die
Prügelstrafe und jede körperliche Züchtigung bei den Culturvölkern
abgeschafft worden, oder sie sollte es werden. Bei schwachen Personen,
besonders bei Kindern, ist sie eine Rohheit, bei starken muss sie,
wenn sie Erfolg haben soll, bis zur Rohheit gesteigert werden. Wo das
Bewusstsein der Kraft aus den Erfolgen mit der Kraft, d. h. der er-
probten Kraft, herstammt, grenzt der Muth der Kraft an den Muth
der Dressur, wie denn die Analyse nur für die Theorie gilt; im Walde
verzweigen und verästeln sich die Wurzeln gar leicht. Die Bäume, die
fremd und stolz neben einander aufragen, haben ihre Wurzeln durch-
einander getrieben.

II.

Mit der Interessenfrage treten wir in eine neue Sphäre in
der Phänomenologie des Muthes, der auch hier wieder in drei Unter-
gattungen zerfällt. Eigenthümlich ist diesem Muthe seine Reactionskraft,
die Energie des Widerstandes. Seine Arten sind:

1. Der Muth, welcher Egoismus ist und einem psychischen Be-
harrungsgesetze entspricht. Das ist der Muth für sich selbst, der Muth
der Beharrlichkeit, wo es sich um die Interessen des eigenen Lebens
handelt, der seine Kraft im Selbsterhaltungstriebe findet, wenn er ihm
nicht identisch ist. Künstler, welche vor einer Epidemie die wilde
Flucht ergreifen, Kaufleute, welche eine Gänsehaut bekommen, wenn

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 373, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0373.html)