Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 374
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sie nur vom Kriege reden hören, werden plötzlich muthig, wenn es
das Werk, wenn es das Geschäft gilt. Stubenhocker unternehmen dann
gefährliche Reisen, ängstliche Gemüther schrecken vor Angriffen nicht
zurück. Sie suchen die Gefahren sogar auf, wenn es einen Vortheil
oder die Erhaltung eines Besitzes, einer Eigenart gilt. Ueber diesen
Muth wird gewöhnlich sehr verschieden geurtheilt. Die Juden z. B.,
denen man einen activen Muth oft abgesprochen hat, haben im Laufe
der Geschichte einen geradezu unbesiegbaren Beharrungsmuth bewiesen.
Oder ein Beispiel aus dem bürgerlichen Leben: Eine Frau, welche
einmal den Schutz nicht gefunden hat, den sie suchte, denkt über den
Muth ihres Mannes ganz anders als dessen Geschäftsführer, welcher
seinen Muth in Action sieht, sobald das Geschäft in Frage kommt.
Die Werthung der Motive kommt hier gar nicht in Betracht. Mag Geiz
seine Ursache sein, aber man wird nicht darüber streiten, ob es Muth
ist, sich aus dem in rasendem Zuge befindlichen Eisenbahnwagen zu
stürzen, bloss um einen davonfliegenden Hut zu erhaschen. Wo es sich
um den Egoismus handelt, sind immer menschliche Leidenschaften in
Mitwirkung, sie sind des Muthes Feuertaufen. Der Hass, die Liebe, der
Neid, die Habsucht, die Vergnügungs- und Spielsucht, der Zorn, die
Rache, sie sind Geissel des Muthes, welche ihn zur Raserei bringen.
Der Mensch in der Leidenschaft ist immer muthig. Wovor schreckt
ein Mensch zurück, wenn es die Befriedigung einer Leidenschaft gilt?
Nicht vor Gattenmord, nicht vor Ehebruch, ja nicht einmal vor der
Ehe selbst.
2. Der Muth, den die Leute moralisch aus dem Mitleiden ab-
leiten, der aber in Wahrheit aus der Suggestion entstammt, denn
das Mitleid ist nichts Anderes, als die suggestive Gleichsetzung des
Ichs mit dem Andern. Eine Gefahr, in der einer schwebt, wirkt suggestiv
auf den Zuschauer und lässt ihn handeln, als wäre er selbst in Gefahr.
Der Muth des Mitleids steht im Verhältniss dieser suggestiven Mög-
lichkeit. Je mehr jemand sich mit dem gefährdeten Andern verwechseln
kann, je höher kann sein Muth sein, ihn zu retten. Jemand sieht ein
Kind ins Wasser fallen und springt ihm nach, weil das Gefühl des
Ertrinkens ihn selber getroffen hat. Je fremder, je gleichgiltiger ihm
das gefährdete Individuum ist, je schwächer wirkt die Suggestion, je
geringer wird auch die Kraft des Willens sein, zu retten und zu helfen.
Je nach der Erregbarkeit des Mitgefühls mit anderen Lebewesen
schwindet dieser Errettermuth. Er ist bei Kindern und Frauen sehr
viel sensitiver als bei Männern. Einer Katze wird eher ein Kind als
ein Mann ins Wasser nachspringen, weil dieser durch das Gefühl
des Ertrinkens bei der Katze nicht mehr miterregt wird. In wem ein
sehr starkes Rassegefühl ausgebildet ist, der wird nicht mehr durch
die Gefahren und Leiden eines Individuums irritirt, welches nicht zu
seiner Rasse gehört. Ritter, die die grössten Gefahren bestanden in
Glaubenskämpfen und Liebesthaten, sahen kühlen Muthes Knechte, Juden
und Feinde verbluten. Ihr Muth des Mitleids hatte eben einen andern
Cours. Die höchste Irritation dieses Mitleids, des von ihm kommenden
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 374, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0374.html)