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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 375

Text

DER MUTH. 375

Muthes hat der Liebende für die Geliebte, die Mutter für ihr Kind,
weil hier das Gefühl der Gefahr für beide fast identisch ist. Je besser
man überdies jemanden kennt, je deutlicher wird einem sein Leiden,
je grösser die Suggestion auf unsern Willen, einzugreifen. Deshalb
haben wir mit einem Bruder mehr Mitleid als mit einem Fremden;
und das Mitleid, welches Eltern mit den Kleinsten empfinden, ist das
stärkste, gewachsen nämlich um die ganze Kenntniss der Kindesseele,
welche man mit den älteren Kindern bekam. So wächst das Mitleiden
thatsächlich mit dem Wissen und das Wissen mit dem Mitleiden. Wir
identificiren uns zwar mit dem Leidenden, aber doch nicht so sehr,
dass wir nicht noch eine Freiheit des Handelns voraus hätten und von
zwei Standpunkten zugleich die Gefahr sähen. Zwischen ihnen aber
hat der Muth Spielraum sich zu entfalten. Das Alles wird anders,
wenn man zugleich mit in Gefahr kommt. Die naive Verwunderung
über das unritterliche Verhalten der jungen Leute bei dem Brande
des Pariser Wohlthätigkeitsbazars verrieth keinen besonderen psycho-
logischen Scharfsinn; übrigens hatte man Gründe die Sache tendenziös
zu entstellen. Wer in Gefahr ist, hat nur eine Sorge: sich zu retten.
Die Salonphrase von der »Liebe bis in den Tod« ist da sehr ohn-
mächtig. Und wenn in solchem Fall ein des Weges kommender Ar-
beiter muthiger ist als die stolzen Söhne der »besten Familien«, so
darf man eben nicht vergessen, dass der Muth des Arbeiters einen
ganz andern Spielraum hatte als der schon gelähmte von Leuten, die
in derselben Gefahr schwebten. — Die suggestive Wirkung des Mit-
leidens hat zur Folge das Mithandeln und ist überhaupt die Ursache
der Nachahmung. Fast alle, auch die feigsten Menschen, haben
Muth zu thun, was die Andern thun. Die nie den Muth besitzen, ein
Schiff zu besteigen, klettern aufs Rad, weil’s die Andern auch thun.
Die Gefahren einer Eisenbahnfahrt unternimmt heute, wer sich ehedem
kaum in die Postkutsche getraut hätte. Wenn alle Welt etwas thut,
dann schrecken die Gefahren nicht mehr, sondern reizen eher noch.
Die Geschichte der Abstürze in den Bergen ist ein illustratives Beispiel,
wenn das Duell nicht ein noch lehrreicheres wäre. Der Zwang und
die Nachahmung machen muthig (die Hammelherde, welche in den
Abgrund stürzt). Der Muth aus Feigheit aber ist ein psychologisches
Ammenmärchen. Wohl gibt es einen Muth aus Zwang, wie es einen
Willen aus Zwang gibt, was nicht anders heisst, als einen Muth oder
einen Willen, dem die Richtung gegeben ist, d. i. einen Muth in Folge
von Suggestion. Wenn ein Mensch, der sonst vielleicht feige und un-
thätig ist, in der Todesgefahr den Muth des Verzweifelten zeigt, so
hat er ihn nicht in Folge seiner Feigheit, sondern in Folge seiner jäh
erwachten Lebensenergie. Man ist nicht muthig, weil man feige ist,
aber man ist muthig und feige, wie es denn in Bezug auf den Muth
nicht zweierlei Menschen gibt: muthige und feige; sondern es gibt
nur verschiedene Grade und Bedingungen des Muthes.

3. Der Muth, welcher Kaltblütigkeit ist. Ist es gewöhnlich
das Temperament, welches den Muth macht, so ist es hier der Mangel

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 375, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0375.html)