Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 376
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an Temperament, welcher den Muth bedingt. Aber dieser Muth ist
gleichsam in die Objectivitätssphäre gerückt, während wir es bisher
mit dem subjectiv-persönlichen zu thun hatten. Bei einer Panik ist es
die Mutter, welche zuerst ihr Kind retten wird; aber irgend ein ruhiger
Greis wird der Panik Herr werden. Der Kaltblütigste wird es sein, der
Einzige, der seine Besinnung nicht verloren hat, welcher zunächst Ge-
legenheit finden wird, seinen Muth zu bethätigen. Wie hier der Muth
von Mutter und Greis, verhält sich im Kriege der Muth von Soldaten
und Feldherrn. Sich einem Kugelregen entgegenzuwerfen, ist der Muth
der Soldaten, aber einen Angriff zurückzuschlagen, eine Flucht aufzu-
halten, zeigt den Muth des Feldherrn. Für ihn ist es kein Zeichen von
Muth, sich in ein Kampfgewühl zu stürzen. Wenn der Soldat zur Be-
sinnung kommt und der Führer die seinige verliert, dann ist die
Niederlage entschieden. Der Muth, den ich hier skizzire, ist der Muth
der persönlichen Interesselosigkeit, ein höherer Muth erst dann, wenn
es auch der Muth einer höheren Intelligenz ist. Nach der alten Moral
und Aesthetik wäre das sozusagen die Heiligkeit des Muthes, der
Muth, welcher in die Sphäre der Kunst und Wissenschaft hineinragt.
Für die menschliche Gesellschaft ist der werthvollste Muth der der
Dressur. Zwei geübte Feuerwehrmännerhände leisten bei Feuersgefahr
immer mehr als der Muth der Tollkühnheit und der Kaltblütigkeit
zusammen.
Die höchste Gattung von Muth bemisst sich nach der Bewertung
des Lebens und des eigenen Selbst. Bezeichnend für diesen Muth
ist seine Passivität, die Ausdauer im Ertragen von Gefahren und Leiden,
die kühne Unterordnung unter ein fremdes Gesetz, die Hintansetzung
des eigenen Selbst. Die drei Untergattungen stehen auch hier zu
einander wie These, Antithese und Synthese.
1. Der Muth, der aus der Verachtung folgt und Gleichgiltigkeit
ist. Der muthigste Mensch ist, wer am meisten Verachten gelernt; und
wer erst das Leben verachtet, dem kann selbst der Teufel nicht mehr
bei. Mit der Verachtung beginnt jede Heldenlaufbahn, mit der kri-
tischen Verachtung die des Künstlers. Aus der Verachtung erwuchs
den ersten Christen ihr Muth. Sclaven und Dekadenten, denen das
Leben nichts werth war, wurde das Martyrium fast eine neue Lebens-
quelle. Dabei ist es zunächst gleichgiltig, ob dem Verachteten ein Höher-
gewertetes entgegensteht oder nicht.
2. Der Muth, der umgekehrt in der Verehrung wurzelt. Bei
jeder neuen Unternehmung gibt es Tausende von Existenzen, die muthig
Leben, Ehre und Glück aufs Spiel setzen, sei’s, dass sie nicht
mehr viel daran zu verlieren haben, sei’s, dass sie es erst zu
gewinnen hoffen. Es hat zu allen Zeiten erschreckend viele Menschen
gegeben, die sich eigentlich für nutzlos im Leben gefühlt haben, und
die jede Gelegenheit ergriffen, in welcher sie sich erst ihren Werth
holen konnten. Und jeder, der ihnen ein Werthbewusstsein schaffen
kann, wird der Gegenstand schwärmerischer Anbetung. Das ist der
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 376, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0376.html)