Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 382

Dichterverehrung in Skandinavien (Hamsun, Knut)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 382

Text

DICHTERVEREHRUNG IN SKANDINAVIEN.
Von Knut Hamsun (Aas Station, Norwegen1).

Alljährlich fährt ein kleines Dampfboot die
Seine auf- und abwärts. Es schleppt Prahmen
und Fähren hinter sich nach. Und das Dampf-
boot ist so winzig klein, und die Prahmen und
Fähren sind so gross. Und der Name des Dampf-
bootes ist »Quand-même«.

Man klagt über die Stellung der schönen Literatur bei uns; ich
lese hie und da von den verzweifelt bedrückten Verhältnissen, unter
denen sie arbeitet; nun denn, ich will den Gedanken aufzuwerfen ver-
suchen, ob man die schöne Literatur heutigentags nicht überschätzt, ob
sie nicht in unseren Vorstellungen einen allzu grossen Platz einnimmt,
ob sie nicht, gerade herausgesagt, nachgerade den Charakter einer
Plage, einer Landplage anzunehmen beginnt.

Wer ein genug langes Leben hinter sich hat, um sich der Siebziger-
jahre zu erinnern, der wird wissen, welche Veränderung dazumal mit
den Dichtern vor sich ging. Es war eine gewaltsame Wandlung. Sänger
und Erzähler waren sie bis dahin gewesen, Stimmungsmacher, frohe
Gemüther — da ergriff sie der Zeitgeist, und sie wurden zu Arbeitern,
zu Erziehern, zu Reformatoren. Sie wollten nicht länger blosse De-
corationen sein im Leben, sie wollten etwas bedeuten. Und sie be-
gannen zu wirken.

Die Dichtung der Siebzigerjahre ist ihrer Art und ihrem Charakter
nach durchaus bestimmt von den die Welt wie die Philosophie damals
beherrschenden demokratischen Nutzbestrebungen. Es war eine Dichtung
ohne viel Phantasie; doch es war viel Fleiss, und es war viel Verstand
darin. Die Versdichtung verfiel, Roman und Schauspiel blühten. Der
Umstand, dass man über alles schreiben durfte, was zu aller Welt
Füssen lag, schuf eine Unzahl von Schriftstellern; viele darunter waren
Sterne, welche kamen und gingen; aber sie schrieben ein Buch und
bereicherten die Literatur. Und die Literatur schwoll. Man popularisirte
die Wissenschaft, behandelte sociale Fragen, reformirte die Institutionen.
Auf der Bühne konnte man in jenen Tagen die Tuberculose und Ge-
hirnerweichung dramatisirt sehen, und in den Romanen, die noch mehr
Platz und Ellbogenraum boten, liessen sich allenfalls auch die Fehler


1) Anmerkung: Herr Knut Hamsun stellt uns diesen Vortrag, welchen er
im vorigen Jahr vor norwegischen Studenten gehalten hat, freundlichst zur Ver-
fügung. Einzelne Bemerkungen beziehen sich selbstverständlich nur auf specifisch
norwegische Zustände.

D. R.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 382, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0382.html)