Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 383

Dichterverehrung in Skandinavien (Hamsun, Knut)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 383

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DICHTER VEREHRUNG IN SKANDINAVIEN. 383

der neuesten Bibelübersetzung einer Besprechung unterziehen. Der
Dichter war damals eine Macht. Er ging nicht durch die Welt, um
die Menschen zu unterhalten, nein, er erschütterte, betrübte, tödtete
sie. Was hatten die alten Dichter geleistet? Oh, nichts! Gar nichts
hatten die alten Dichter geleistet. Sie waren Sänger und Erzähler ge-
wesen, sie hatten ihre kleinen poetischen Einsprüche gemacht. Nun
wurden die Dichter Verkünder, die mit gewaltigen Ansichten die Zeit
herausforderten. Wer sich jene Tage zurückruft, erinnert sich noch,
wie es fragend von einem zum anderen ging: Was meinen denn die
Dichter über die Evolutionstheorie? Was denkt wohl Björnson von den
Sonnenmythen?

Gut. Die Dichtung kam in den Dienst der Volksaufklärung und
Volkserziehung. Es war ja so bequem, sein Wissen aus der Leetüre
von Romanen und Theaterstücken zu schöpfen; auch kann kein Zweifel
darüber herrschen, dass diese Nutzdichtung so manche Kenntnisse im
Lande verbreitete. Woher stammte das Rückgratleiden des Doctor
Rank in Ibsen’s »El Dukkehjem« (»Nora«)? Aus den lustigen Lieutenants-
tagen seines Vaters. Woran starb klein Marius in Kielland’s »Gift«?
Am Latein, an seinen Lehrbüchern, an Gift. Und die norwegischen
Häusler, die nur ein bischen mit ihrer Zeit lebten und Kielland’s
»Else« gelesen hatten, liessen ihre jungen Töchter keinen Dienst im
Dorfe annehmen; die jungen Töchter gingen ohne Ausnahme in Gross-
händlershäuser.

So also stand es: Kampf und Discussion und Verkündigungen
über der ganzen Linie! Was Wunder, wenn eine Literatur, welche sich
solchermassen mit Allerweltsbedürfnissen abgab, die Leute dahin brachte, sich
mit den Dichtern selbst zu beschäftigen? Die Schriftsteller der Siebziger-
jahre mit ihrer Arbeitskraft, ihrer Fruchtbarkeit, ihrem Geistesfeuer
waren es, die das aussergewöhnlich hervortretende Interesse für Literatur
bei uns schufen. Allerdings kam der grosse Krach nach, draussen in
Europa wandte der Wind die Flügel, man begann dieser Nutzpoesie
mit ihrem ganzen Apparat von Wissenschaftlichkeit und Reformen-
drang satt zu werden. Das Schlimmste war, dass die Wissenschaft,
mit der man sich drapirt hatte, selbst ins Schwanken kam. Was bis
dahin als erwiesen, als feststehend gegolten, wurde einer neuen Be-
handlung unterzogen: man fühlte sich nicht mehr sicher. Es kam
zwischen den Gelehrten zu Kämpfen über Darwin und Wellhausen,
und schliesslich erklärte Brunetière im Namen der Literatur die
Wissenschaft für bankerott. Allein das neue Leben war erwacht. Das
Volk war mitgerissen. Es kam so weit, dass man sich im Jahre 1885
bei der Storthingwahl mit einer literarischen Angelegenheit und einer
literarischen Persönlichkeit — einem Staatsbeitrag für Alexander Kiel-
land — beschäftigte

Und wiederum sind die Dichter Sänger und Erzähler geworden,
die ihre kleineren poetischen Einsprüche dazu geben. Sie reformiren
nicht mehr die Gesellschaft, und sie behaupten weder in ihren Versen,
noch in ihren Romanen eine bestimmte Ansicht über die Echtheit des

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 383, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0383.html)