Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 384
Text
Johannes-Evangeliums; das Interesse aber für ihre Leistungen und ihre
Personen hat sich nicht gelegt. Nein, es hat sich durchaus nicht ge-
legt. Die Leute lesen nach Leibeskräften Dichterwerke und gehen wild-
begeistert mit.
Es ist ein Anblick für Götter, wie sie mitgehen.
Es gibt keinen Zweig unserer Discussion, der sich einer eifrigeren
Verehrung erfreut, als der literarische. Ueber Literatur plaudert alle
Welt; weder Kunst noch Wissenschaft noch Politik noch Religion sind
in solchem Grade im Stande, unser Aller Gedanken zu beschäftigen.
Wir discutiren auch nicht wenig. Diese Leidenschaft ist uns zu
unserem Leben merkwürdig nothwendig geworden. Und wir schwätzen.
Man kann die Bemerkung bei uns machen, dass wir, wie es heisst,
»unsere Communicationen entwickeln«, indem wir über Eisenbahnbau
discutiren und — Telephone anlegen. Wir haben ein ausserordent-
lich entwickeltes Telephon, wir können es uns erlauben, zu schwätzen.
Der Orientale schwätzt nicht, es ist dies für ihn ein zurückgelegter
Standpunkt, den er überwunden hat. Der vornehme Orientale sitzt
auf seinem Divan, schlürft seinen Mokka und lächelt. Er denkt
und lächelt, doch er ist stumm. Und wir, wir discutiren, wir discutiren
Literatur.
In den Siebzigerjahren konnte man diese Discussion verstehen;
zu einer Zeit, da die Dichtung actuelle Fragen der ganzen Welt be-
handelte und die Stoffe von Jedermanns Füssen aufhob, da konnte
man schöne Literatur so gut wie jede andere Journalistik lesen. »En
Folkefiende« (»Volksfeind«) von Ibsen z. B. ist nichts anderes als ein
einziger langer Zeitungsartikel; fast dasselbe lässt sich von »El Djuk-
kehjem« (»Nora«) sagen. Seit den Siebzigerjahren aber sind gar
viele Jahre vergangen und gar viele Bücher erschienen — die Dis-
cussion jedoch ist ihnen treu gefolgt. Der Cultus, der bei uns daheim
mit Dichtung und Dichtern getrieben wird, kann nur dem Cultus der
letzten Jahre mit Sport und Nordpolfahrerei an die Seite gestellt
werden. In unserer Bevölkerung von 2 Millionen erschienen im Vor-
jahre zwischen 75—100 belletristische Bücher. Von diesen wurden
71.000 Exemplare verkauft. Dazu kommen die Uebersetzungen mit
mindest derselben Anzahl. Dazu kommen des weiteren die Weih-
nachtsnummern mit 60.000 Exemplaren. Bei 200.000 Bücher belle-
tristischen Inhaltes werden hier alljährlich über die Leute ausgeschüttet.
Rechnet man das Buch zu 1 Krone 80 Oere, so sind es 360.000
Kronen (240000 fl.)! Gerade hinreichend zu einer neuen Nordpol-
expedition!
Kann also die Stellung der schönen Literatur bei uns eine so
entsetzlich schlechte genannt werden? Da dürfte es wohl auf anderen
Gebieten unseres Culturlebens Dinge geben, die weit mehr im Argen liegen.
Und welche Resultate dieser heldenmüthigen Leseleistungen wird
man wohl am Tage der Abrechnung zu vermelden haben? Hier ist
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 384, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0384.html)