Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 385

Dichterverehrung in Skandinavien (Hamsun, Knut)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 385

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DICHTERVEREHRUNG IN SKANDINAVIEN. 385

nicht der Ort, zu entscheiden, was »gute« und was »schlechte« Literatur
ist; wer kann es überhaupt entscheiden? Was für den Einen ein gutes
Buch ist, ist für den Anderen ein schlechtes Buch und umgekehrt.
Daher dieser blindwüthende literarische Streit im Lande! Aber die
grosse Dichtung hat doch ihr Merkzeichen, ihre innere Hoheit, die sie
zum Herrn macht, zum Triumphator in einer Literatur. Und wo ist
sie, die letzte grosse Dichtung?

Auf dem Weihnachtsmarkt trat sie hervor. Die Saison war gross,
der Autorenstand reich vertreten; nur einer fehlte — Björnson. Gehen
wir nun ehrlich und gewissenhaft die Dichtung der Saison durch und
sehen wir, ob sie ein einziges Buch aufweist, das mehr bedeutet als
alle anderen, das den ganzen Rest in den Winkel drückt. Es sind
Bücher, die in schweren Auflagen verkauft wurden, Autoren, die ihr
gewohntes jährliches »Glück« gemacht haben; allein dies Factum ist
ja gegenüber der Frage nach dem wirklichen Werth eines Buches von
äusserst geringer Bedeutung. Man kann ein Buch aus Gnade, aus
Pietät, aus Gewohnheit loben; man kann es auch aus Feigheit loben,
weil alle Anderen es loben.

Allein all diese Bücher muss man ja bei uns als gebildeter
Mensch gelesen haben. Es sind ja nicht die Bücher junger Mode-
verfasser, es sind die Bücher der Alten, der Autoritäten, der Dichter-
meister. Jahr um Jahr haben sie uns gefoppt oder — um nicht einen
unnöthig deutlichen Ausdruck zu gebrauchen — Jahr um Jahr haben
sie uns getäuscht. Denn es sind Bücher alter Menschen, mit zitternden
Händen zusammengekritzelt, aus leeren, unbetonten Verhältnissen heraus
geschrieben. Wir aber, wir ziehen nicht aus dem vergangenen Jahre
die Lehre, wir lassen uns mit Begeisterung neuerdings täuschen. Wir
verfolgen diese Bücher in ihrem Entstehen, wir laufen ihnen auf der
Brücke entgegen, wir schreiben Notizen in die Zeitungen, dass »Baldur«1)
sich draussen im Fjord verspätet habe Es gibt sicherlich kein zweites
Volk auf der Erde, das sich um etlicher Bücher willen so gehaben würde.

Unter einem Dichter verstanden wir in älteren Zeiten einen Mann
mit Phantasie und Gefühl, vor Allem mit Phantasie uud Gefühl; unter
einem Dichter verstehen wir heutzutage einen Mann mit Gehirn, vor
Allem mit Gehirn. Er ist unser Denker, er muss speculative Dinge
sagen können, seine Worte müssen tief sein. Und lesen wir diese
tiefen Worte, so fällt es uns kein einzigmal ein, zu erwägen, dass
ja ein Unterschied besteht zwischen diesem poetischen Raisonnement
und dem Denken.

Es kommt indess vor, dass Europa ein Lächeln über dies
nordische Denken nicht unterdrücken kann. Es geschieht mitunter,
dass wir da draussen einen stillen Mann antreffen, der unserem Glauben
an nordische Denkkraft einen betrüblichen Stoss versetzt. Sagen Sie
mir um meiner ewigen Ruhe willen, Herr Doctor, kennen Sie den
Herrn Denker Ibsen? Und das stummste Lächeln ist die Antwort.


1) Das Dampfschiff, das die in Kopenhagen gedruckten Bücher zu uns bringt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 385, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0385.html)