Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 386
Text
Ist man aber erst wieder daheim und weit fort von dem stillen
Manne, dann hat man wieder das nationale Schauspiel vor Augen, wie
die Leute der nordischen »Denkkraft« auf die Brücke entgegenlaufen.
Und man hört das laute Murren der guten Gesellen, weil »Baldur«
sich draussen im Fjord im Nebel verspätet hat.
Wenn es bei uns zu Hause Autoren gibt, deren Bücher jahraus,
jahrein, jahraus, jahrein den Markt überschwemmen — Bücher, die
obendrein auf ein Haar den vorjährigen und den vor zehn Jahren er-
schienenen gleichen — so ist dies der abnormen literarischen Hysterie
des Publicums zuzuschreiben, welche diese Bücher bei so reissendem
Absatz erhält. Es ist ein Verhältniss ausser aller Vernunft, es ist eine
Brandschatzung. Diese Bücher brauchen uns um keinen Hahnenschritt
in Kunst und Geist weiterzubringen, sie brauchen lediglich geschrieben
und gedruckt zu werden, sie brauchen bloss von heuer zu sein, um
gekauft zu werden. Die einzige Bedingung, die man an sie stellt, ist
die, dass sie nicht im vorigen Jahre erschienen sind. In einer armen
Nation, in der mittelmässige Bücher des Absatzes so sicher sind, hat
die schöne Literatur bereits zu grosse Ausdehnung gewonnen — sie
wird überschätzt, sie tritt als Landplage auf.
Wir sind geneigt, unsere üppige Literatur nicht als Merkmal, als
gutes Zeichen von Cultur, sondern als fast gleichbedeutend mit der
Cultur selbst zu betrachten. Die Literatur hat in unserer Vorstellung alle
andere Kunst verdrängt und so manche Wissenschaft ersetzt. Diese
Anschauungsweise ist eine allgemeine. Und sie ist übertrieben, sie ist
falsch. Hätte man die ganze Dichtung der letzten Saison in Brand ge-
steckt, es hätte kaum aus dem Scheiterhaufen nach gebackenem Weizen
gerochen. Selbst der Satz, die Dichtung sei die grösste Geistesmacht,
das wichtigste, unentbehrlichste Entwicklungsmittel eines Landes, lässt
sich nicht so ohne Weiteres aufstellen. Das gesunde und reiche Volk
der Holländer hatte während einer langen Periode seiner Geschichte
die grösste Kunst der Welt aufzuweisen; doch es hatte keine Dichter.
Heute besitzt das kleine Leyden innerhalb seines Weichbildes die
höchste Wissenschaft der Erde; aber Holland hat keine Dichter. Italien
besass im Mittelalter eine Kunst, die an Herrlichkeit nicht ihresgleichen
findet; und doch brachte Italien zu jener Zeit nur eine einzige
Dichtung hervor. Und noch dazu eine Dichtung, in welcher bloss die
Scholastik der damaligen Zeit in Verse gebracht war.
Unentbehrlich, absolut unersetzlich ist die schöne Literatur für
ein Volk, einen Staat, eine Cultur nicht. Sie ist ein Glied in der Kette,
eine Kunst an der Seite der anderen Künste. Aber sie ist kein
souveräner Kaiser über alle Könige.
Und das ist es, wozu sie bei uns gemacht wird.
Es gab eine Zeit, wo Dichterbegabung eine Sache war, die man
eben mitnahm. Noch zu Alfred de Musset’s Tagen waren vornehme
Leute dem Dichterstande abhold, und mit Sorge sah die Familie ihren
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 386, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0386.html)