Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 387
Text
Sohn zu demselben übergehen. Wir Norweger haben gewiss die Dichter
nicht allezeit nach Verdienst geehrt; bis zu den Sechzigerjahren gingen
sie in vertretenen Schuhen und lebten von der Hand in den Mund.
Die Menschen verstanden sie dazumal nicht besser. Umsomehr haben
sie sie seitdem verstehen gelernt.
Seit zwanzig Jahren gibt es in unserer Vorstellung keinen Platz
für grössere Männer als unsere Dichter; seit zehn Jahren sind sie
unsere Gottheiten. Wir schmücken unsere Fenster mit ihren Bildern,
wir drehen uns auf der Strasse nach ihnen und zeigen sie einander
flüsternd, wir sprechen in ihrer Nähe mit leiser Stimme. Etliche unter
ihnen haben es in ihrer Kleidung, in ihrer Art, sich zu tragen, zu
einem hohen Grad von Originalität gebracht. Es sind merkwürdige
Männer, bei denen der Geist seltsame Blasen treibt und sich in Extra-
vaganzen äussert. Aber freilich haben sie auch den Kopf voll grosser
Dinge!
Welchen Einfluss hat nun diese Dichterverehrung auf die Jugend?
Den Einfluss, dass sie bei derselben die richtigen und vernünftigen
Grenzen der Bedeutung der schönen Literatur in einer Nation verrückt
und sie diese Bedeutung in unrichtiger Vergrösserung sehen lässt. Die
süsse und grandiose Bewunderung, die den Dichtern zutheil wird, ver-
lockt die Jugend dazu, selbst Bücher zu machen. Man dichtet in den
Städten, man dichtet auf dem Lande, es nimmt Dimensionen an, es
ist zu einer Epidemie geworden. Wir Aelteren von der Profession be-
kommen ein Manuscript nach dem anderen zur Durchsicht, und einer
der Verleger in Christiania musste letztes Jahr über zweihundert Manu-
scripte refüsiren. Bloss ein Verleger in einer Stadt!
Unsere Jugend hat sich auf Sport und Dichtung geworfen. Eine
kühle Beschäftigung für heisse Herzen! Die Politik interessirt sie nicht,
die religiösen Wogen ergreifen sie nicht; unsere Geschichte will durchaus
keine Ereignisse bringen, und nichts vermag die jungen Menschen vom
Schreibtisch abzuziehen — es wären denn Skischuhe und Schlitten.
Während der Schulzeit, während der Studentenzeit überkommt sie eine
Menge dunkler Regungen, sie kosten diese Regungen, sie schmecken
gut, es sind Luftzüge von der Höhe, kleine fliegende Weihen — und
es werden Verse daraus. Und nun, da der junge Herr schlecht und
recht Verse zu schreiben vermochte, sieht er mit Verwunderung auf
seine merkwürdigen Gaben. Er erhält den bestimmten Eindruck, dass
es seltene Verse sind, Ausnahmen, dringend nothwendig in einer bereits
im Voraus überlasteten Literatur. Und er geht zum Verleger. Und er
wird refüsirt.
In dieser Zeit, wo so viel über moralische Handlungen eines
Volkes gesprochen und geschrieben wird, gibt es wohl auch Jünglinge,
die nach der Dichterlaufbahn verlangen, weil sie zur Erhebung bei-
tragen, weil sie Gutes thun wollen. Man sammelt so viele Erfahrungen
zwischen Jahr und Tag; und mitunter trifft man auf so edle Inten-
tionen. Für diese jungen Leute sind Dichterthaten die schönsten Thaten
des Lebens; sie brennen darauf, an die Reihe zu kommen und durch
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 387, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0387.html)