Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 388
Text
ihre Dichtungen zu erheben. Sie schildern grossherzige Menschen, die
ihr Geld an Kinderanstalten verschenken, sie stiften schöne und
dauernde Ehen, sie beschreiben den Sieg der Tugend in dieser sün-
digen Welt; sie bringen moralische Erzählungen. Dies ist wiederum
eine Verfälschung der Dichtermission. Niemand wird schreiben, um
Schaden anzurichten, um Böses zu thun; aber ganz gleich naiv »gut«
sind nicht Alle. Uebrigens ist dieser Gedanke alt. Ein Theil der Ency-
klopädisten glaubte daran, etliche gute Menschen glauben noch heutigen-
tags daran. Er beruht auf einer Ueberschätzung der Bedeutung der
Erkenntniss für die Volkserziehung, er geht von der herzensfrommen
Albernheit aus, dass die Menschen nur lernen müssen, was gut und
richtig sei, um selbst ein gutes und richtiges Leben zu führen. Ach,
dann wären wohl die Engländer das beste Volk der Erde. Und der
alte Gladstone hätte wohl nicht Alexandria beschiessen lassen!
Aber auch dies soll Sache der Dichtung sein — die Moralver-
kündigung für das grosse Volk. Unaufhörlich arbeitet man daran, sie
zu etwas anderem und zu mehr zu machen, als sie thatsächlich ist.
Auf Grund ihrer vielen Obliegenheiten bringt sie es nach und nach
zu einer Mitbürgerschaft, die sie vordem nicht hatte; sie beginnt In-
stitution zu werden, sie wird von sesshaften Geistern, die von ihren
Bezügen und ihrem Barvermögen Steuer zahlen, als Gewerbe betrieben.
Die Presse des Landes discutirt des Dichters »Gedanken« auf das
Ernsthafteste; ihm überlässt man es, zu entscheiden, wie viel geistiges
Interesse sich den anderen Landesangelegenheiten zuzuwenden habe.
Auf Schritt und Tritt verfolgt ihn die Neugierde der Fexe; er kann
keine Spritztour nach Dröbak machen, ohne in die Zeitungen zu
kommen, er empfängt ab und zu anonyme Briefe und eine Unzahl
Zuschriften von begeisterten Ladenschwengeln. Und all’ dies passirt
ihm, weil er der grösste Mann der Nation ist.
In den Strassen von Paris wandelte bis zum vorigen Jahre eine
Figur in dem allermiserabelsten Aufzug; es war ein Mensch, der auf
der ganzen Welt nicht Haus noch Heim besass. Einmal wurde er für
das schaulustige Publicum abgebildet, wie er in der Kneipe sass, den
Absynth vor sich — der Photograph hatte ihn daselbst getroffen. Er
hätte ihn auch Tags darauf treffen können, in einer anderen Kneipe,
wieder den Absynth vor sich. Denn er besass nicht Haus noch Heim
in der ganzen Welt. Manchmal, wenn dieser Mann absolut einiger
Francs bedurfte, ging er mit ein paar Seiten Manuscript zum »Figaro«.
Und der »Figaro« nahm es, bezahlte und druckte es. Denn der Name
des Mannes war bekannt, es war ein Dichter, einer der Gottessöhne
der Literatur, es war Paul Verlaine.
Vor ihm, lange vor ihm, trieb sich in demselben Paris eine
andere wunderliche Dichtergestalt herum, ein unbändiges, sorgloses
Kind, eine geniale Landstreichernatur, ein Kreuz für die Nachtwächter
der Stadt. Er schrieb Gebete an die heilige Jungfrau und Balladen an
seine Zechkumpane, er verherrlichte die Freuden dieser Welt und klagte
über deren Vergänglichkeit. Dann beging er die Unvorsichtigkeit, einige
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 388, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0388.html)