Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 389
Text
Bischöfe und Professoren zu verspotten, gerieth in Gefangenschaft und
wurde mit Kaltwassertortur gemartert. Er entkam, verging sich wieder
und wurde aufs Neue festgenommen; einmal wurde er zum Galgen
verurtheilt. Sein ganzes Leben war eine einzige Kette von Strafen.
Ward er darum bitter und gereizt, weil das Volk sein Talent nicht
anerkannte? Nein, er ward es nicht. Wohl scheinen ihm die Strafen
bisweilen unbillig und hart, und er spottet wieder des hohen Bischofs.
Doch er fühlt sich der Dornenkrone nicht würdig. Bevor er stirbt,
will er einen Krug Wein holen, ihn an den Mund setzen und bis auf
den Grund leeren. Dieser Mann war François Villon, der Vater der
französischen Dichtkunst.
Allerdings können zwischen diesen beiden Dichtern und den
unserigen nicht so ohne Weiteres Vergleiche gezogen werden; doch als
unverrückbare Exempel stehen Villon und Verlaine in der Ferne. Sicher
ist, dass sie auf ihre Art der Dichteridee näher kamen als unsere
»grossen« Dichter, die unbedingt alljährlich ihren Namen durch irgend
eine verdorrte Dichtung in Erinnerung bringen müssen. Denn die
Dichter sind ihrer Herkunft nach nicht vom sesshaften, steuerzahlenden
Stamme. Vagabundenseelen sind sie, verwandt mit den Leierkasten-
männern. Ach, sie sind ja nicht Hausbesitzer und Gewerbetreibende,
sie halten kein Comptoir; sie arbeiten, wenn Gottes Gnade sie über-
kommt. Ein Dichter verbirgt niemals knauserig seine guten Einfälle
bis zu seinem nächsten Buche; in einem Scherz beim Glase ver-
geudet er sein Gold oder in einem Liede unter dem Balkon der
Damen. Das thut der Dichter. Er geht von Hof zu Hof, er bekommt
in Gottes Namen einen Schilling, und er bückt sich und senkt den
Hut. Das thut er. Und kommt die Nacht, so fällt er auf der Treppe
in Schlaf, oder er geht in den Wald, oder er wandert hinein in die
Berge. Und für seinen Blick sind es keine Berge mehr, es sind Zelte
für Könige, Königszelte. Und er schlägt den Mantel um sich und tritt
in sein Zelt. Der Himmel ist hoch und ruhig, und die Sterne wohnen
da droben, und er hat das Gefühl, dass der grosse Weltengott wohl
für seine Nachtruhe sorgen werde, ob er auch nur ein kleiner Mensch
ist, ein Dichter Für alle stimmberechtigten Bürger des Landes aber
ist es ein ewiges Wunder, wie dieser Mensch sein Leben erhält.
Das ist der Dichter. Es ist eine sociale Position, die wohl Keinen
verlockt. Denn er hat kein Geld durch sein Talent zusammengescharrt,
und er ist ein wurzelloser Mensch, ein Vagabund ohne Pass
Jedenfalls gibt es zwischen zwei Extremen eine Mittelstrasse.
Können sich auch nicht alle Dichtergrössen heutzutage in wandernde
Genies verwandeln, so kann doch immerhin die Vorstellung des Volkes
von ihrer Bedeutung sich innerhalb vernünftiger Grenzen halten. Für
eine ehrliche und gewissenhafte Betrachtung ist unsere Dichterverehrung
ein in Flor stehender Humbug. Eine Reaction wäre gerechtfertigt und
verständig. Sie würde jedenfalls dazu beitragen, das Leben zu jener
Einfachheit, aus der heraus es sich entwickelt hat, wieder zurück-
zuführen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 389, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0389.html)