Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 390

Die Intellectuellen« (Schmitz, Oskar A. H.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 390

Text

»DIE INTELLECTUELLEN.«
Von Oscar A. H. Schmitz (Paris).

Gelegentlich des Zola-Processes wurde in der französischen Presse
wieder einmal mit der gewohnten Gehässigkeit von den »Intellectuellen«
als den eingefleischtesten »Dreyfusards« gesprochen. In deutschen
Blättern wurde dem Erstaunen Ausdruck gegeben, dass »intellectuell«
ein Schimpfwort werden könne; bei seiner blossen Erwähnung ist die
französische Kammer in das übliche Gelächter ausgebrochen, zu welchem
die seit dem Krieg in Frankreich herrschende Classe stets bereit ist,
wenn es geistige Werthe zu verhöhnen oder Schönheit zu besudeln
gibt. Es muss indessen zu Gunsten dieser republikanischen Schank-
wirthe und Proxeneten gesagt werden, dass sie mit dem Wort eine
Nuance verbinden, die unserem herübergenommenen Ausdruck fremd
ist. Sie, die seit einem Menschenalter daran arbeiten, Schutt über die
noch als Ruinen schönen Mauern der »grande nation« zu häufen, sie,
welche zur Tugend zu klein und zum Laster zu feig, mit ihren feisten
Leibern die Wege der Weitausschreitenden verrammeln, sie sind, als
übermässige Bewunderer der Intelligenz, zu Todfeinden der Intellectua-
lität geworden.

Die Auflösung der menschlichen Arbeit in Fachthätigkeiten sowie
der Mangel an einer einheitlichen Religion, deren Katholicität jener
Zersplitterung entgegenarbeiten könnte, hat eine solche Verflachung
des modernen Durchschnittsmenschen gezeitigt, dass die Auserlesenen,
welche heute noch das Stigma der Intellectualität in ihren Mienen
tragen, sich über Abgründe hinaus erkennen müssen und in der Gemein-
samkeit ihrer Leiden und Beobachtungen ein Band finden, welches sie
gegenüber den »Andern« verknüpft. Dieses Band ihrer sogenannten
Intellectualität besteht in der Fähigkeit und dem nimmer ruhenden
Trieb, die Erscheinungen ausserhalb ihrer praktischen Nützlichkeit zu
betrachten, zwecklos zu schauen um des Schauens willen, die Idee
hinter dem Geschauten zu fühlen, zu vergleichen, Analogien zu finden
und — wie man früher sagte — im Mikrokosmus den Makrokosmus
zu erkennen, kurz, philosophisch oder künstlerisch zu denken und zu
empfinden. Das Gegentheil dieser Intellectualität oder Geistigkeit ist
die Intelligenz oder der gesunde Menschenverstand — le bon sens.
Der Intelligente hat die Gabe und den nimmer ruhenden Trieb, die Er-
scheinungen im Sinne der praktischen Nützlichkeit auszubeuten, zu schauen
und das Geschaute zu verwerthen, zu combiniren, die Erscheinungen
zweckmässig zu ordnen, kurz, kaufmännisch oder diplomatisch zu denken
und zu empfinden.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 390, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0390.html)