Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 391

Die Intellectuellen« (Schmitz, Oskar A. H.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 391

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»DIE INTELLECTUELLEN.« 391

Das Verhältniss zwischen Intellectuellen und Intelligenten ist
dieses: Erstere erkennen — ihrer Art gemäss, allen Erscheinungen
gerecht zu werden — die nothwendige Berechtigung Jener an, während
Letztere in diesen Parasiten erblicken, die nicht nur unnützlich, sondern
im Sinne des allgemeinen Nutzens schädlich sind.

In Frankreich klammert sich die heutige Gesellschaft — wenn
man das so nennen will — an die Intelligenz, als das einzige Ideal,
welches sie aus dem Bankerott ihrer Race gerettet hat. Um so deut-
licher entwickelt sich der Gegensatz der Intellectuellen, um so ge-
schlossener treten sie als Gemeinschaft hervor, um so symptomatischer
werden sie als Factor im öffentlichen Leben. Daher jenes Gelächter
des Hasses, des Hohns und — der Verlegenheit, als man neulich in
der Kammer ihrer erwähnte, jenes Gelächter, welches die deutschen
Berichterstatter so ausnehmend befremdete.

Man könnte einwenden, dass die Geistigen zu allen Zeiten einen
Elitestaat im Staate gebildet hätten, dass schon in den Briefen der
Frau v. Sevigné von einer Republik der Gelehrten die Rede ist. Doch
man vergesse nicht, dass eine breite Brücke zwischen der Gesellschaft
und dieser Republik bestand, eine Brücke, die heute aus folgenden
Gründen abgerissen ist: Damals gab es noch eine bevorzugte Gesell-
schaft, deren Eigenthümlichkeiten die jedes wirklichen Adels waren:
der Besitzerwerb — jene Erbsünde der Gesellschaft — lag in diesen
Familien um so viele Generationen zurück, dass seine erniedrigenden
Spuren völlig aus den Seelen verwischt waren. Der Besitz aber be-
stand fort und ermöglichte ein müssiges, den Wissenschaften und
Künsten geneigtes Leben. Das Racegefühl bestärkte den Charakter,
eine transscendentale Religion den Geist, dem Unnützlichen, dem um
seiner selbst willen Guten oder Schönen und seinen Vertretern, den
Intellectuellen, freundlich zu sein. Diesen Zuständen gegenüber ist heute
die Erbsünde des Besitzerwerbs in der herrschenden Classe noch nicht
abgewaschen, da sie nicht vor Generationen, sondern gestern oder
heute begangen wurde; ferner ist die moderne Art des Erwerbs eine
weit erniedrigendere als jenes einmalige, brutale Besitzergreifen. Die
Güter der heute in Frankreich herrschenden Classe sind durch zahl-
lose Kniebeugen, Schönrednerei, klügliche Berechnungen und klein-
liche Kniffe, wenn nicht durch viel Schlimmeres erworben. Wenn die
Grundbedingung einer edlen Race die ist, dass alle Erwerbsrücksichten
aus ihren Erwägungen ausgeschlossen sind, dass nichts für Geld gethan
wird, sondern Alles nur, weil es an sich schön oder gut oder minde-
stens weil es angenehm ist, so leuchtet es ein, dass der heutigen
französischen Gesellschaft, deren Interessen sich fast ausschliesslich dem
Erwerb zuwenden, kein Racegefühl mehr innewohnt. Die Religion hat
man gleichfalls abgeschafft. Auf Grund welcher Eigenschaften könnte
man also ein gemeinsames Band mit den Intellectuellen erwarten? Wie
sollte diese Gesellschaft etwas Anderes als die dem Nutzen dienende
Intelligenz verehren?

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 391, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0391.html)