Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 392
Die Intellectuellen« (Schmitz, Oskar A. H.)
Text
Es künden sich neue Zeiten an, in welchen die Gesellschaft des
Besitzes vielleicht durch die Gesellschaft der Zahl, der Majorität ge-
stürzt werden wird. Das kann den Intellectuellen durchaus gleichgiltig
sein. Von keiner anderen Gesellschaft haben sie etwas zu erwarten
als von einer aristokratischen, in welcher — mögen auch die Indi-
viduen oft schwach und beschränkt sein — der Geist und Charakter
der Gattung, durch eine transscendentale Religion unterstützt, nie
die Gewohnheit verliert, nach Anderen als nützlichen Massstäben zu
urtheilen. Eine solche Gesellschaft ist heute in Frankreich wenig wahr-
scheinlich, da der erschöpfte bourbonische Adel selbst mit Hilfe der
Kirche kaum restaurirt werden könnte. Es bleibt also nur die Hoffnung
auf einen Heiland, auf Einen, der höher ist als Race, Besitz und Menge,
auf eine grosse Persönlichkeit, in deren Geist sich ein neues Weltbild
spiegelt, und dessen Arm die Kraft hat, es zu verwirklichen.
Man kann die Entwicklung des Gegensatzes zwischen »Intellec-
tuellen« und »Bürgerlichen« in der französischen Literatur dieses Jahr-
hunderts verfolgen. Classische Worte hat Alfred de Musset in den
ersten 20 Seiten der »Confessions d’un enfant du Siècle« ausgesprochen.
Dort vernimmt man zum erstenmal den jähen Aufschrei des geistigen
Menschen, der, genährt an der Tradition seines grossen Volkes, in die
Welt tritt und Krämer findet, wo er Fürsten erwartete, Dirnen, wo er
Frauen suchte, den statt der Freude das Geschrei, statt der Liebe ein
dürrer socialer Pflichtbegriff empfängt, welcher, im Begriff zu weinen,
nachdem er das erste Weib verführt, von ihr verlacht wird. In den
Trägern der Staatsgeschäfte treten ihm vermoderte Stubenbeamte ent-
gegen, dressirte Sclaven und Frohnvögte in den Vertheidigern des
Landes, statt den Herren des Handels, deren Schifte einst kühn die
Meere durchkreuzten, begegnet er klüglich berechnenden Krämern. Mit
der Revolution wurde alle menschliche Grösse gestürzt, das Zeitalter
der Kleinen, der Kleinlichen, der »Vielzuvielen«, das ist angebrochen,
das Jahrhundert der Alles überheulenden Maschinen, das Jahrhundert
des Alles verpestenden Dampfes.
Milder als Musset’s tragischer Schmerz klingt die — man möchte
sagen — wohlwollende Verachtung Theophil Gautier’s, den die täppische
Bosheit des »Philistin« wie ein Circusschauspiel unterhält.
Balzac wünscht sich und seinen Freunden einen solchen Erfolg,
dass man es für durchaus in der Ordnung halten würde, wenn sie sich
der bürgerlichen Salons als W. C. bedienten.
Baudelaire’s Hohn ist von trostloser Verbitterung begleitet. Die
Vorstellung von dem Märtyrerthum des Künstlers bricht hervor. Die
»Malédiction« gibt Zeugniss hievon (les fleurs du mal). Zugleich kommt
das »épater les bourgeois« auf. Die Intellectuellen schliessen sich enger
zusammen. In den sorgsam verhängten Räumen des Hôtel de Pimodan
sucht man in seltsamen Orgien der Farblosigkeit des Jahrhunderts zu
entfliehen, indem man sich mit Hilfe von Haschisch und Opium in
ein »paradis artificiel« versetzt. Grünäugige Frauen von kranker Mager-
keit werden geladen, und während sie ihre nach östlichen Spezereien
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 392, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0392.html)