Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 393
Die Intellectuellen« (Schmitz, Oskar A. H.)
Text
duftenden Haare schwingen, träumt man die seltsamen Laster unwider-
bringlicher Zeiten und verfasst flüchtige Poesien aus Düften und
Dämpfen.
Nach aussen werden Gewohnheiten angenommen, die der Bourgeois
anstarrt, la bouche béante. Baudelaire kommt mit grüngefärbten Haaren
in eine Gesellschaft und fühlt sich tödtlich verletzt, dass man sich
nicht gebührend darüber erstaunt und empört. Seine neuen Kleider
reibt er, wie Gautier erzählt, mit Glaspapier ab, um ihnen jenen
»éclat endimanché« zu nehmen, »si cher au philistin«. In einem Salon
stellt ihm ein bildungsstolzer Proletarier seine drei Töchter vor, von
welchen eine malt, eine andere dichtet und die dritte musicirt »Et
la quelle destinez-vous à la prostitution?« fragt Baudelaire.
Flaubert ruft entrüstet aus: während sich die Gäste Trimalchio’s
an den Haaren schöner Jünglinge die Hände trocknen durften, würden
sich Einige wundern (il y en a), wenn unsereins ein paar solcher feister
Krämer in seinen Ställen halten sollte.
Unter Verlaine kommen die Rufe auf: »nons avons du talent«,
»nous sommes les intellectuels«, unter welchen die Kaffee- und Bier-
häuser des lateinischen Viertels erzittern. Noch heute besteht in der
»Source« auf dem Boulevard St. Michel ein Tisch der Intellectuellen,
und der berüchtigte Bibi-la-Purée gibt noch immer, wenn er seine
Jahresrente von 100 Franken erhoben hat, den »intellectuellen« Copains
ein Bankett.
Es herrscht eine vollkommene Absonderung der Intellectuellen
von der Gesellschaft, sie haben die Berührungspunkte mit dem Leben
verloren, die Margarinepreise interessiren sie nicht. Einige, welche
gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt in den dumpfen Schreibstuben
irgend eines Ministeriums zu ersitzen, thun es unter einem anderen
Namen, welchen kaum ihre intimsten Freunde kennen.
Längst fühlt man indess die Unhaltbarkeit dieses literarischen
Seins, dessen Brennpunkte die Dienstage darstellen, wo man sich in
den dunkelrothen Salons des »Mercure« versammelt, um zusammen die
literarische Wäsche der letzten Woche zu waschen. Man seufzt nach
Thaten. Man hat es satt, Sonette und Rondels zu verfassen. Maurice
Barrès, der das Evangelium der Intellectuellen, den »Homme libre«
geschrieben hat, wirkt schon seit einigen Jahren als Deputirter. Um
dieselbe Zeit, als sich d’Annunzio, der die Intellectualität Italiens ver-
tritt, in das Parlament seines Landes wählen liess und Zola für
einen unschuldig Verurtheilten den Kampf gegen sein Volk aufnahm,
hat Camille Mauclair, ein sehr charakteristischer Vertreter der jungen
Generation, öffentlich in einer Art Manifest dem literarischen Dasein
abgeschworen und feierlich die Bekehrung zum Leben gelobt. Die Zeit
wird lehren, ob er Kleinekinderschulen gründen, für die Verbreitung
des Franzosenthums ins Ausland sorgen oder ein neues Mittel zur
Bekämpfung der Reblaus entdecken wird.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 393, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0393.html)