Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 380

Eine schweigende Runde (Altenberg, Peter)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 380

Text

380 ALTENBERG.

Dichter! Rettung, Rettung, Rettung! Siehe, ekelhaft sind
wir, unappetitlich uns selber, körperlich, seelisch, geistig,
unangenehme Gefässe, angefüllt mit mysteriösen dunklen
Dingen. Wir ersehnen deshalb eine Kraft, die uns zu schaum-
gebor’nen Aphroditen umschafft, die uns verzauberte zu
mächtigen und milden Königinnen. Wie wenn Einer zu einer
Pflanze sagte: ‚Du miserables Conglomerat feucht-schleimiger
Zellen!‘ Direct verwelken würde sie, vertrocknen. Ein Anderer
aber resümirte, schüfe Synthesen: ‚Holde Blume!‘ Gleich
würde sie da zu duften beginnen. So ersehnen wir den Dichter,
damit wir seien! Denn uns selber sind wir fade
eklige Gebilde und unsere Brüste sind gelbe
fette Zellengänge für Milch und unsere Zitzen
schmerzen
. Wehe, wenn uns der Dichter im Stiche liesse!
Wie Riesen-Alken watscheln wir am Strande. Jedoch in
Lüften?! Und die uns später retten aus dem Ocean des
Lebens, sind wie die Haie, welche die Matrosen vom
Ertrinken retten
, indem sie sie zersplittern. Ver-
zeihen Sie mir; ich bin pathetisch geworden.«

»Sie haben das Pathos der grossen Tragödinnen des
Lebens!«

Später sagte die Dame zu dem jungen Mädchen: »Nun,
Isabella?! Wie bleich Du bist — — —.«

Das Mädchen erwiderte: »Geliebte Tante. Nun versteh’
ich Alles. Nur was ein Dichter dichtet, ist er. Nichts An-
deres. Nicht was er in der armseligen Stunde ist, am lauten
Tage, in der stillen Nacht, im Jahr, im Leben, ist er. Son-
dern was er ist, wenn er nicht ist, wenn er von sich fort-
geflogen ist, von seinem Strande, und nicht mehr vorhanden
ist. Das ist er!! In ewigem Schweigen müsste man mit dem
Dichter leben und nicht am Strande watscheln neben ihm
und gackern. Siehe, geliebte Tante, was dieser mir mitzu-
theilen hatte in der Welt, hat er mir in der Nacht gesagt
vom 3. zum 4. Februar, zwischen 11 Uhr Nachts und 4 Uhr
Morgens, als ich sein Buch von Anfang bis zu Ende las,
bis Frühroth glänzte und die Lampe starb.«

Frau L. betrachtete das junge Mädchen: »Tapfere! Wir
glauben immer, die eine Generation müsse so stupide sein
wie die andere, so marlittisch, süsslich, unbehülflich. Dennoch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 380, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0380.html)