Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 397

Ibsen auf Wiener Bühnen (Schik, F.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 397

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IBSEN AUF WIENER BÜHNEN. 397

organischen Fortschritt der Menschheit, den mitzumachen ihm die
inneren Fonds fehlen.

Nach diesem Schema werden die anderen Personen des Stückes
und dessen Symbole zu erklären sein. Wir sehen Solness von drei
Frauen umgeben: Seine Gattin ist das unklar gährende Princip mit
dem Blick in die Vergangenheit, der das Einzelne werthvoller erscheint,
je weiter es zurückliegt. Die verlorene Kinderzeit der Menschheit —
die verbrannten Puppen — beweint sie am meisten. Das unklar
gährende Princip der Gegenwart ist in der Comptoiristin Solness’, die
der verschämt praktischen Liebe huldigt, das unklar gährende Princip
der Zukunft in Hilde Wangel verkörpert. Für keine dieser drei
typischen Frauen ist Solness der befreiende Genosse. Sie bleiben alle
drei enttäuscht zurück. Die »Kinderzimmer« der Gegenwart stehen leer,
unsere Zeit bringt keinen Thronfolger mehr hervor.

Mit Hedda Gabler hinwieder geht das Gegenwartsweib zugrunde
an einer Ueberfülle von unvereinbaren Trieben. Die moderne weib-
liche Gefühlsordnung wird durch Frau Elvsted verkörpert. Diese be-
hauptet, von einem Uebergangsmanne geistig befruchtet, den Platz. Sie
ist die Botin aus der Vergangenheit in die Zukunft. Eine Nora nach
dem letzten Act dieses Stückes. Auch Frau Elvsted ist ihrem Gatten
— wie sie ihn schildert, einer von der Art Helmer’s — entlaufen und
hat jetzt das »Wunderbare« in dem Werke Lövborg’s, den sie hiezu anregte,
gefunden. Ein sicheres Beispiel für die Zusammenhänge der einzelnen
Ibsen’schen Dichtungen. Lövborg ist als Theoretiker modern, in seinen
praktischen Lebensbeziehungen veraltet und muss, sobald seine physi-
schen Eigenschaften die Oberhand gewinnen, in tödtlichen Conflict mit
sich kommen. Tesman, so lächerlich antiquirt sein Gehaben auf den
ersten Blick scheinen mag, ist doch, wie sich am Ende des Stücks
zeigt, wo er mit Frau Elvsted gemeinsam das Lövborg’sche Zukunfts-
werk zusammenzustellen sich entschliesst, ein neuzeitlicher Praktiker,
der die brauchbaren Ideen Anderer zu erkennen und zu conserviren
versteht. Ein Handlanger der Zukunft. Mit Hedda Gabler geht auch
das veraltete Kunstprincip der Schönheit zu Grabe. »In Schönheit
sterben« ist ihr letztes Wort. Lövborg hinterlässt das neue Kunst-
princip, auch das Hässliche nicht zu scheuen: den Schuss in den
Unterleib.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 397, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0397.html)