Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 396
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lichen Geschlechtes sich an einer weiter vorgerückten Stelle kreuzen,
als dies vor ihm der Fall war. Ibsen entwickelt Männer- oder Frauen-
charaktere über die bisherigen Verkehrsgrenzen hinaus, so lange, bis
sich dann Menschen trotz jahrelangen Zusammenlebens plötzlich fremd
erscheinen. In diesem Stadium finden solche Geschöpfe nun ihnen
bisher Unbekannte, welche ganz getrennt von ihnen denselben Ent-
wicklungsprocess durchgemacht haben und ihnen schon beim ersten
Zusammentreffen innerlich weit näher stehen, als die seit Langem
durch bürgerliche Bande äusserlich Verbundenen. Das Princip der Ver-
einigung einzelner Menschen auf Lebensdauer wird über den Haufen
geworfen, nicht aus Frivolität, sondern aus den zwingenden Gründen
einer Umwandlung der Persönlichkeit. Der Kampf der neuen Persön-
lichkeit mit der alten in ein und demselben Menschen ist das specifisch
Ibsen’sche Problem. Entweder Selbstmord der alten oder Selbstmord
der neuen Persönlichkeit. Wer sich aber zu keinem von diesen zu
entschliessen die Kraft hat, bei dem findet eine Todeskreuzung dieser
zwei unvereinbaren Individualitäten statt, die erst recht zur gänzlichen
Selbstvernichtung treibt. Die Interimsempfindungen eines Menschen
während einer solchen Seelenrevolution kunstdeutlich zu machen, ist
die Hauptdomäne Ibsen’s. Im Faustproblem spielt das Weib eine ganz
andere Rolle als hier. Dort ist sie ein Theil der äusseren Welt, die
dem Manne entgegentritt. Bei Ibsen ist die Weltkette eine ganz enge:
Mann, Frau. Was ausser ihnen sich ereignet, muss vorher in ihnen
vorgegangen sein. Eine Veränderung der Aussenwelt ist nur durch
eine veränderte Beziehung dieser Beiden möglich. Die äusserlichen
Umstände malt Ibsen als etwas unwahr Gewordenes. Sie bedeuten den
sich umwandelnden Menschen nicht mehr dasselbe wie früher, und
durch das Symbolische wird eben auch die Umwandlung der äusser-
lichen Umstände angedeutet.
In »Baumeister Solness« wird der Niedergang der bisherigen Ge-
sellschaftsordnung in blendender Farbenpracht versinnbildlicht. Ein
Weltuntergang mit allen seinen Schrecken. Die geschichtliche Periode,
in der wir leben, begann mit der »Erbauung von Kirchen« — mit
der Religion. Im Verlaufe tritt das sociale Problem in den Vorder-
grund, »die Erbauung von Heimstätten für Menschen«. In unseren
Tagen wird die Zusammenschweissung dieser zwei Culturmittel ver-
sucht: Solness baut eine Wohnstätte für Menschen mit einem hoch in die
Lüfte ragenden Thurme. Als er noch Kirchthürme baute, hatte er die Kraft,
sich in metaphysische Höhen zu schwingen, seit er Wohnhäuser baut, wagt
er sich nicht mehr aus den materiellen Niederungen. Nun er sein Leben in
Eins zusammenfassen, das Ideale mit dem Materiellen verbinden will, stürzt
er, der die bisherige Gesellschaftsordnung verkörpert, ab, ohne geistige
und leibliche Nachkommen zurückzulassen. Niemand mehr wird seine ver-
unglückte Idee, »Wohnhäuser« mit hohen Thürmen zu verbinden, auf-
nehmen. Er glaubte, dass eine andere Gruppirung der Zeitbestand-
theile das Neue mache. Er fasst die Idee des Neuen nur als eine
mechanische. Seine Furcht vor der Jugend ist die Furcht vor dem
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 396, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0396.html)