Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 395
Text
Meinen Lesern will ich deshalb freundlichst anheimstellen,
kurz und gut: dass man kein Stück vorläufig bei Seite lege,
nichts vorläufig überspringe, sondern sich die Werke aneigne —
sie durchlese und durchlebe — in der Reihenfolge, in welcher
ich dieselben gedichtet habe.
Christiania, im März 1898. Henrik Ibsen .«
So spürt Ibsen selbst den Ursachen seiner Misserfolge nach, und
in der That liegen die Dinge speciell für Wien, wie er angibt. Ganz
wahllos, ohne die Zeit der Entstehung der Stücke zu berücksichtigen,
führt man sie hier kunterbunt durcheinander auf. Einmal eines aus
seiner ersten Dichterperiode, gleich darauf sein neuestes u. s. w.
in Unordnung. Seine einzelnen Werke aber haben untereinander
innere Zusammenhänge, während man z. B. selbst bei den Shakespeare-
schen Königsdramen ganz gut eines allein aufführen kann, wohl mit
Zerreissung des äusseren Geschichtsvorganges, aber ohne das Ver-
ständniss des Wesens zu schädigen.
Ibsen baut sein dichterisches System immer vollständiger aus.
Seine Grundidee entfaltet sich in jedem weiteren Stücke voller. Die
künstlerischen Details werden immer complicirter, und wer sich vor-
wiegend auf den Genuss dieser verlegen wollte, würde sich immer
weiter vom Verständniss des Ganzen entfernen. Ibsen gewährt erst
dann die echten Freuden am Detail, wenn er im Ganzen erfasst ist.
Erst dann wird man in jedem späteren Drama stets sämmtliche In-
gredientien der vorhergegangenen Dichtungen zu einer höheren Ver-
bindung gebracht sehen.
Ein Haupthinderniss des Verständnisses war diesmal wieder die
Darstellung, die »Baumeister Solness« und »Hedda Gabler« gefunden.
Im Burgtheater ging es bis zur Hälfte des ersten Actes ganz gut. Je
mehr aber im Verlaufe jeder Satz an die Zusammenhänge mit Vorher-
gegangenem erinnern sollte, um so grössere Hilflosigkeit trat ein. Herr
Robert wurde immer weniger Baumeister Solness und immer mehr
Macbeth, Frau Hohenfels verwandelte sich noch rascher aus der Hilde
Wangel in die Gänsemagd aus den »Königskindern«. Da diese zwei
Hauptpfeiler der Darstellung nicht Stand hielten, waren die anderen
Mitspieler ganz ohne Compass. Der neue Leiter des Burgtheaters hat
sich um die Aufführung wenig verdient gemacht. Wenn er schon Rollen
an hiefür ungeeignete Darsteller vertheilt, sollte er sie wenigstens mit
entsprechenden Aufklärungen über den Sinn der Dichtung an Haupt
und Gliedern auszustatten wissen. Im Carltheather erhielt Alles sofort
parodistischen Anstrich. Hier lachte man, im Burgtheater stellte sich
Theilnahmslosigkeit ein.
Bei dieser Sachlage obliegt den Ibsen-Interpreten einstweilen nur
die Aufgabe, das Verständniss aus dem Groben herauszuarbeiten.
Als Hauptcharakteristicum bei den Ibsen’schen Dichtungen muss
erkannt werden, dass die Entwicklungslinien des männlichen und weib-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 395, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0395.html)