Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 450
Die Waldseelen (Wille, Bruno)
Text
schwisterlich zusammen. Und ich fühle mich hineingezogen
in die Umarmung und komme mir vor wie ein Wanderer,
der endlich heimgefunden hat.
Auf einmal regt es sich vor meinem Träumerblicke.
Steht da nicht ein alter Mann in dunkelgrüner Kutte?
Staunend spähe ich hin; es ist der Wachholderbaum!
Wahrhaftig, alter Freund, wie ein Eremit stehst du da
— versunken in Mystik! Hegst du mit nebelhaftem Grün,
mit dicht geschmiegten Stachelzweigen etwa ein Geheimniss,
spröder Grübler? Und möchtest du aus den Tiefen der Natur
deine Offenbarungen spenden, alter Sonderling?
»Wer Ohren hat zu hören, der höre!«
»Holiah! Jetzt war mir gerade, als hättest du geredet!«
»Wahrlich, ich rede!«
»Reden? Du? ein alter Wachholderbaum? Ach nein!
Dryaden gibt es nicht — die Götter Griechenlands sind
dahin — der grosse Pan ist todt! Du redest nur in meiner
Einbildung. Ich selber spreche zu mir und übertrage meine
Gedanken auf dich. So habe ich jüngst zu Hause mit meiner
Guitarre geredet. Bin eben ein Träumer!«
»Und warum willst du deinem Einbilden nicht glauben?
Ist nicht alles Verstehen solch Einbilden? In das fremde
Wesen bildest du hinein, was in deiner Seele vorgeht —
und dann darfst du sagen: Ich verstehe das Wesen!«
»Doch das Einbilden soll nicht zu weit gehen. Bedenke
doch, reden — nach Menschenart reden «
»Lässt sich denn blos nach Menschenart reden? Horch,
wie die Wildgänse ihrer nordischen Heimat entgegen-
schnattern! Skool, skool! reden sie — skool, dägeck!«
»Meinethalben, die Wildgänse reden — mögen sogar
Skool rufen. Du aber, alter Freund — so lieb du mir bist —
was ein Thier kann, du kannst es nicht! Die Thiere fühlen,
sie haben eine Seele. Du hast keine — bist eben eine Pflanze.«
Traurig wiegte der Wachholderbaum das Haupt: »Ich
keine Seele? Mir sprichst du ab, was du einem Thiere —
dort dem elenden Regenwurme — zugestehst?«
Ein schwermüthiges Raunen ging durch die Föhren:
»Oh — oh! Zu ist der Sinn — auf einmal zu! Was hat ihn
verschlossen? Oh — oh! Merlin, Merlin!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 450, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0450.html)