Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 451
Die Waldseelen (Wille, Bruno)
Text
»Was tausend! Ihr Bäume wollt auch mitreden? Und
Merlin nennt ihr mich? Wie kommt ihr denn dazu?«
Die Föhren raunten weiter: »Hörtest du nicht vom
weisen Merlin — der die Sprache der Bäume und aller Wald-
wesen verstand? Wir glaubten, du seist ein Merlin. Hast du
nicht im Herbst zu unseren Füssen gelauscht auf unsere
schwermüthige Weise und aufgeschrieben, was wir klagten?«
»Ja — das war in Gedichten! Als Denker bin ich anderer
Meinung!«
Der Wachholderbaum nahm wieder das Wort: »Bist du
denn zweierlei? ein Anderer, wenn du denkst? und ein
Anderer, wenn du dichtest? und da liegst du doch, ein ein-
ziger Merlin!«
»Einzig wohl! Nicht einig!«
»Oh! klagten die Föhren — Merlin ist krank! Oh!«
»Ach ja! seufzte der Wachholderbaum — Merlin glaubt
nicht an sich! Er möchte so gern glauben; aber dann räuspert
sich der Superkluge, der in ihm wohnt und schilt: Unsinn!«
Die Föhren blickten finster: »Ei, wie kommt denn der
Superkluge dazu?«
»Ihr guten Bäume — ihr werdet mich wohl nicht ver-
stehen! Der Superkluge sagt ihr; ich sage: Wissenschaft.
Meine Wissenschaft lehrt: Was du in Gedichten Föhren-
raunen nennst, ist nichts als seelenlos’ Geräusch. Die Wipfel
schwingen im Winde — ganz mechanisch — und erschüttern
die Luft.«
»Seelenlos’ Geräusch!« entgegnete der Wachholderbaum.
»Und wenn nun der Mensch redet? Sage, Merlin, wie ent-
steht das Geräusch deiner Rede?«
»Das ist doch was Anderes! Beim Menschen wird die
Luft aus den Lungen gepresst und versetzt die Stimmbänder
in Schwingung.«
Die Föhren meinten: »So entsteht eure Rede eigentlich
ähnlich wie unsere Rede. Bei uns schwingen die Wipfel ·—
beim Menschen die Stimmbänder!«
Der Wachholderbaum fügte hinzu: »Und warum nennst
du nicht das Geräusch deiner Stimmbänder seelenlos?«
»Weil in der Menschenrede eine reiche Abwechslung
bebt — die auf ein inneres Fühlen schliessen läßt! Dagegen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 451, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0451.html)