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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 452

Text

452 WILLE.

gibt das Geräusch der Wipfel nur von Kräften Kunde, die
von Aussen stossen. Bei gleicher Windstärke ist es dasselbe
Geräusch, mag es Sommer, mag es Winter sein.«

»Glaubst du wirklich — versetzten die Föhren — dass
in winterlicher Starre und Verholzung unsere Wipfel kein
ander Geräusch von sich geben, als zur Zeit der Jugend-
säfte?«

»Nun gut! Saft und Trockenheit bedingen verschiedene
Geräusche. Ich gebe auch zu, Saft und Trockenheit sind was
Innerliches; doch sie bedeuten nichts Seelisches!«

»Still!« tuschelten die Föhren — »da kommt wer!«

Ein Ast knackte. Mit klatschendem Flügelschlag flog
ein Reiher von der Moorlake empor. Dann sang eine helle
Stimme:

»Alle Vögel sind schon da —
Alle Vögel, alle!«

Es musste ein Kind sein.

Und noch eine Stimme: »Lenchen! — es klang kräch-
zend — kumm vun de Moorlake wech!« Das war ein altes
Weib.

»Woher weisst du das? murmelte der Wachholderbaum.
»Du siehst doch nichts!«

»Ich sehe nichts; aber das hört doch leicht heraus!«

»Ja — die Haidehanne ist es. Woran hast du es denn
gemerkt? Kennst du sie?«

»Ich kenne sie nicht; aber so vertrocknet spricht nur
ein altes Weib. Und die helle Stimme — das muss doch ein
frisches, muntres Ding sein!«

»Noch eins, Merlin — ehe sie kommen. Du sagtest vor-
hin, Saft und Trockenheit seien nichts Seelisches. Doch
warum denkst du zu der trocknen Stimme eine alte, zu der
frischen eine junge, muntere Seele hinzu?«

»Nun, das ist doch einfach: Weil Saft und Frische
schliessen lassen auf eine junge, muntere Seele, während der
Trockenheit ein altes, mattes Fühlen entspricht!«

»Und warum willst du nicht auch bei uns Pflanzen
diesen Schluss gelten lassen? Warum bildest du nicht in
uns dasselbe hinein, wie in die Alte und in das Kind — ein
Seelenleben, der menschlichen Seele ähnlich? — Und klänge

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 452, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0452.html)