Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 453
Die Waldseelen (Wille, Bruno)
Text
selbst das Föhrenrauschen im Frühling nicht anders wie
beim Nahen des Winters — ich weiss, wie mir um diese
Jahreszeiten zu Muthe. Schon aus den Umständen darfst du
schliessen, dass die Föhren bald jubeln, bald wieder stöhnen.
Jubeln müssen sie, wenn der laue Frühlingssturm sie auf-
rüttelt «
»Ja, der Dichter schliesst so! Er beseelt Baum und
Blume, Wind und Wolke. Doch der Denker «
»Wenn nun aber dein Dichten ein rechtes Denken
wäre?«
»Sst!« machten die Föhren.
Das Kind und die Alte kamen hinter einer Schiffscoulisse
hervor. Das Kind stutzte, als es mich erblickte; es war ein
zierliches Mädchen mit rothgoldnem Haar; es trug Reisig
in der Schürze. Die Alte bückte sich, zerbrach einen dürren
Ast und warf die Stücke in die Kiepe auf ihrem Rücken.
Das Mädchen hielt sich scheu zur Alten. Die murmelte vor
sich hin, und dann gingen die Beiden wieder fort, indem
sie hier und dort nach Holz sich bückten.
Als sie zwischen den braunen Stämmen verschwunden
waren, wandte ich mich zum Wachholderbaum: »Das also
war die Haidehanne? Lenchen ist wohl ihre Enkelin?«
Starr und steif stand der Wachholder, als kenne er
mich nicht. Und auch die Föhren waren so fremd und stumm.
Ich hörte nur ihr feines Sausen und des Schilfes Lispeln.
Ich sah mich um; schon wob die Abenddämmerung zwischen
den violetten Stämmen. Voll dunkler Verstecke lag der
Forst; wohin war denn nun das scheue Märchen geschlüpft?
Komm doch wieder, du liebes Märchen!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 453, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0453.html)