Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 460
Die Missachtung der Kunst (Hello, Ernest)
Text
Was ist das Bild an sich? Ich weiss es nicht. Aber so hat man
es beurtheilt. Ob es nun eine solche Behandlung verdient oder nicht,
jedenfalls hat es sie erhalten. Und diese Dinge werden nach mehr als
1800 Jahren nach Christi Geburt gedruckt.
Eine der häufigsten Erscheinungen bei den Künstlern ist die
Missachtung der Kunst. Eine der häufigsten Erscheinungen bei den
Kritikern ist die Missachtung der Kunst.
Was ich »die Kunst missachten« nenne, heisst, ihr gestatten, dass
sie lügt.
Der Künstler missachtet die Kunst, wenn er anderes anstrebt, als
das Wahre zu verwirklichen. Der Kritiker missachtet die Kunst, wenn
er ihr verzeiht, ein Ideal zu haben, das nicht wahr ist.
Wir hören alle Tage die absurden Worte, auf diesen oder jenen
Irrthum angewendet, wenn dieser Irrthum in glänzender Sprache aus-
gedrückt ist:
»Das ist Poesie.«
Wenn der Durchschnittsmensch, von einer Lüge sprechend, die
Worte: »das ist Poesie« ausgesprochen hat, glaubt er den Lügner ent-
lastet zu haben. Ganz im Gegentheil hat er eine neue Beschuldigung
ausgesprochen, denn wenn der Lügner »poetisch« lügt, lässt er das
Wort in seiner erhabensten Form lügen.
Poesie heisst Schöpfung.
Die Lüge, welche die Poesie trifft, stürmt ein Heiligthum. Der
Durchschnittsmensch, der der Unklarheit eines anderen Menschen
schmeicheln will, sagt: »Das ist ein Künstler«. Wenn es sich in der
That um einen Künstler handelt, so ist diese Unklarheit bei ihm un-
geheuerlich. Die Musik hat die Mathematik zum Kernpunkt; der Vers
findet seinen Wohllaut in der Strenge seiner Gesetze.
Der Künstler soll unter dem Zeichen strenger Ordnung leben;
die Bewunderung soll sich ihm nur mit Ehrfurcht nahen und die Be-
wunderung, die nicht ernst und streng ist, ist die grausamste aller
Schmähungen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 460, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0460.html)