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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 459

Text

DIE MISSACHTUNG DER KUNST. 459

Niobidenbrust den Pfeilen darbietet, wie er sich den Pfeilen Amors
bieten würde, bald das ‚Individuum‘ eines Amphitheaters, welches der
Pinsel secirt wie das Messer des Anatomen.«

Diese Worte sind geschrieben worden. Ich erfinde sie nicht; ich
setze sie nur her. Sie sind nicht eigens geschrieben worden, um mir als
Citat zu dienen. Sie sind ernst geschrieben worden von einem Manne, der
das Märtyrerthum des heiligen Sebastian auf diese Weise auffasst, sich nicht
darüber wundert, es so aufzufassen und nicht daran denkt, es anders
aufzufassen.

Denken Sie sich nun diesen religiösen Maler, diesen Gegenstand
behandelnd, unter dem Einfluss des Geistes, der dem Journalisten die
angeführte Stelle dictirt hat.

Der Maler ist dazu verdammt, seinen Pinsel mit dem Gedanken
zu ergreifen, dass die Malerei schliesslich gewöhnt ist, die Qualen des
heiligen Sebastian von einem rein malerischen Gesichtspunkte aus zu
betrachten. Dies hat sie »immer« gethan. Sie braucht also nur fortzu-
fahren. Niemals hat sie sich gefragt, was in der That der heilige Sebastian
und sein Märtyrerthum war; sie hat nie diese Frage an sich gestellt,
bevor sie ihn auf der Leinwand wiedergab. Und nicht um den heiligen
Sebastian zu beleidigen, hat sie ihn so behandelt. Nein; sie hat es gethan
wie ein Kind, das Spielsachen in die Hand nimmt. Und man wundert
sich nicht darüber: man constatirt die Thatsache mit ernster Miene.
Man ist es gewöhnt.

Die Malerei hat angesicht des heiligen Sebastian nicht einen Augen-
blick lang den Gedanken gehegt nachzusehen, welche Wirklichkeit sie
darstellen wollte. Durchaus nicht; sie hatte Farben in Bereitschaft.
Was geht sie der heilige Sebastian an? Sie sucht malerische Effecte.

»In der Kunst!« Man muss die Tiefe dieser Worte verstehen.
Der heilige Sebastian, der heilige Sebastian in der Wirklichkeit, der
heilige Sebastian in der Geschichte, der heilige Sebastian auf der Erde,
der heilige Sebastian im Himmel wird sein, was man nur aus ihm
machen will. Das geht die Malerei nichts an, Sie verstehen wohl! Sie
braucht nur einen gewissen heiligen Sebastian, wie er »in der Kunst«
ist. In der Kunst, wie ist er in der Kunst? Man hatte die Güte, es
Ihnen zu sagen: er ist malerisch. Wundern Sie sich also nicht zu sehr,
wenn das Bild »stillos« ist. »Das gegebene Sujet macht diese Trivialität
minder störend.« In der That, was gibt es trivialeres als das Märtyrer-
thum des heiligen Sebastian? Die Malerei schwankt angesichts einer
so gewöhnlichen Thatsache und einer so malerischen Persönlichkeit
zwischen Apollo und dem Individuum eines Amphitheaters. Wenn sie
einer derartigen Trivialität gegenübersteht, wenn sie sich einem Hei-
ligen gegenüber befindet, braucht sie zum Troste einen Dämon oder
einen Leichnam. Was den Maler anbetrifft, der auf so malerische Weise
diesen Dämon oder diesen Leichnam gemalt hat, so hat er ein reli-
giöses Bild gemalt, weil der Museumskatalog den Namen »Der heilige
Sebastian« aufweist.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 459, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0459.html)