Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 458
Die Missachtung der Kunst (Hello, Ernest)
Text
Dinge zu betrachten, die der ihres Nachbars entgegengesetzt ist. Da
diese Persönlichkeiten alle voll Mässigung sind, leben sie unter ein und
demselben Dache in verhältnissmässigem Frieden. Sie theilen die
Stunden des Tages unter sich ein. Manchmal erscheint der Künstler
und während dessen ist der Familienvater versteckt; manchmal erscheint
der Familienvater, dann ergreift der Künstler die Flucht. Wenn es
einen Christen gibt unter den Menschen, die den mannigfaltigen
Mann, von dem ich spreche, bewohnen, und wenn dieser Christ sich
nicht wie eine lebende und erhabene Wahrheit all seinen Nachbarn
aufdrängt, vollzieht sich ein abscheuliches, lächerliches, abgeschmacktes
Phänomen, das unsere Strassen und Häuser erfüllt: dieser unglückliche
Christ ist den wilden Thieren ausgesetzt, ohne auch nur auszugehen.
Wenn er nicht den Künstler bekehrt, der mit ihm im selben Menschen
seinen Sitz hat, werden sich Künstler und Christ im selben Herzen
einen geräuschlosen, um so erbitterteren Krieg machen, als er einem
schmählichen Frieden gleichen wird. Wenn der Christ das Wort er-
greift, wird er sagen, dass manche Dinge wahr sind. Wenn der
Künstler die Stimme erhebt, wird er sagen, dass manche Dinge schön
sind, und diese beiden Gattungen von Dingen werden zu einander im
Gegensatz stehen. Der Christ wird in diesem verwüsteten Herzen
gewisse Götzen zerschlagen, die der Künstler bewundert, und dann
wird der Künstler, wenn der Christ verschwunden ist, seinerseits den
zerschlagenen Götzen wieder aufrichten und ihn einige Zeit anbeten.
Der Christ wird den Künstler als Feind der Wahrheit, zu der sich der
Mensch bekennt, verdammen. Der Künstler wird den Christen als
Feind der Schönheit, die der Mensch bewundert, verachten, und der
Kampf dieser beiden Personen wird um so länger, unfruchtbarer, un-
nützer und bitterer sein, als zwischen ihnen beiden im selben Herzen
ein Weltmann stehen wird. Dieser Weltmann wird es versuchen,
zwischen dem Künstler und dem christlichen »Herrn« eine Versöhnung
herbeizuführen. Er wird beiden gegenseitige Concessionen anrathen.
Er wird jedem ein Theil zusprechen. Er wird sich zum Richter zwischen
ihnen aufwerfen, und sein Rechtsspruch wird die Sache so lange ver-
hindern, ins Klare zu kommen, als keine höhere Macht eingreift.
Anlässlich eines Bildes, welches den heiligen Sebastian, von Pfeilen
durchbohrt, vorstellt, hat eine Zeitung folgende Zeilen veröffentlicht:
»Allerdings ist das Bild Herrn Ribot’s vollständig stillos, aber
bei dem gegebenen Sujet erscheint diese Trivialität minder störend.
Der heilige Sebastian ‚in der Kunst‘ hat keinerlei mystische Berechtigung.
Die Malerei hat seine ‚Qualen‘ immer von einem rein ‚malerischen‘
Gesichtspunkt aus ins Auge gefasst. Sie hat aus ihm abwechselnd
ihren Märtyrer und ihren religiösen Apollo gemacht. Bald ist er ein
schöner, junger, elegant an einen Baum gebundener Mann, der seine
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 458, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0458.html)