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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 457

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DIE MISSACHTUNG DER KUNST. 457

Dieser Mensch ist überzeugt, dass die Wahrheit, die Schönheit,
die Harmonie Launen sind, denen sich ein ernster Mensch hingeben
kann, wenn er seine Geschäfte beendigt hat. Aber das Wirkliche für
ihn ist das Handwerk, das er ausübt.

Gestern Abends hat er bewundert: er hatte nämlich in dem
Augenblicke nichts zu thun; sein Arbeitstag war beendet. Er hat den
ewigen Dingen gnädigst einige verlorene Momente geschenkt.

Aber schlaget ihm ja nicht am nächsten Tage vor, die Wahr-
heiten in sein Leben einzuführen, die Tags zuvor seine Seele erschüttert
und verjüngt haben: er würde euch für verrückt halten. Er hat viel-
leicht, als er euch lauschte, geweint. Glaubt aber nur ja nicht, dass
er seine Lebensweise nun beeinträchtigen wird. Er hat geweint, weil
es ohne Folgen war: dieser Mensch verachtet die Thränen. Aber er
wird seine Lebensweise nicht beeinträchtigen, weil er seine Beschäfti-
gungen schätzt. Dieser Mensch geht ins Theater; er ist einverstanden
damit, dass die Heldin unglücklich ist und ergötzt sich sogar an
diesem Unglück aus mehreren, sehr tiefsinnigen Gründen. Aber wenn
er am nächsten Tage in Wirklichkeit das Unglück begegnen würde,
dessen Darstellung er seinen gestrigen Abend gewidmet hat, würde er
es nicht ansehen, weil es nun weder Zeit zu lachen, noch zu weinen
ist: es ist Geschäftsstunde.

III.

Dieser fürchterliche Gegensatz zwischen diesem Menschen im
Theater und diesem Menschen im Leben erstreckt sich nun viel weiter
als man denkt.

Alle Male, wenn ihr ihm von Wahrheit und Schönheit sprecht,
alle Male, wenn ihr von ewigen Dingen zu ihm redet, glaubt er im
Theater zu sein.

Alle Male, wenn ihr von unsichtbaren Dingen sprecht, dünkt er
sich im Theater. Denn die unsichtbaren Dinge erscheinen ihm ohne
Wirklichkeit und sind die Decorationen der Bühne, auf die ihn euer
Wort führt. Aber täuschet euch nicht darüber; dieser Mensch wird das
Theater verlassen, und wenn ihr ihm morgen von Dingen sprächet, die
die Wahrheit erheischt; wenn ihr ihm vorschlüget, nach den Gesetzen
der Schöpfung aus Sonnenstrahlen Brot zu machen, würde er lachen,
als ob ihr ihm vorschlüget, sein Leben der Linderung der Schmerzen
zu weihen, die in der »Porte Saint-Martin« gezeigt werden. Diesen
Schmerzen wollte er wohl Beifall klatschen, denn bekanntlich sind
Schmerzen Dinge, denen man Beifall klatscht, ja, er wollte ihnen
Beifall klatschen: aber er nahm es nicht auf sich, sie zu lindern.

IV.

Jeder Mensch trägt in sich eine gewisse Anzahl Menschen, und
alle diese Menschen sind verschiedener Meinung. In einem Menschen
kann sich ein Gelehrter, ein Künstler, ein Philosoph, ein Familienvater,
ein Arbeiter treffen, und jede dieser Persönlichkeiten hat eine Art, die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 457, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0457.html)