Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 466
Text
Hu! Wie sie sich ärgerte! Wenn sie nur etwas hätte ausfindig
machen können, womit sie auch die Anderen zum Entgelt recht gründ-
lich geärgert hätte. Etwas recht verteufelt Amüsantes, etwas, woran sie
sich bei Gelegenheit erinnern würden
Ihre Augen funkelten, ihr ganzer Körper gerieth in eine fieber-
hafte Aufregung, urplötzlich brach ihre echte Natur hervor — sie war
zu einer That aufgelegt, gleichsam zu derselben inspiriert, und sprang
schnell vom Stuhl auf.
Sie ging in das Zimmer hinein, wo die jungen Leute sassen und
sich mit Anstand langweilten.
Dort drinnen fand sie Tom’s Vetter Johann, einen sechzehn-
jährigen wilden Burschen, der sehr musikalisch war.
Sie beugte sich dicht an sein Ohr herab und sprach flüsternd
zu ihm.
Er sah sie fast erschreckt an, als sie zu reden begann. Aber
allmälig nahm sein Gesicht einen munteren, schelmischen Ausdruck an,
und er erhob sich und ging in den Salon hinein.
In demselben Augenblick riss Finken die Nadeln aus ihrem Haar,
so dass es wogend über ihre Schultern herabfloss.
Mit seltsamem Glanz in den Augen, mit herausforderndem
Lächeln um den Mund — ihre Zähne leuchteten förmlich bissig —
hüpfte sie mit einem Knix in den Salon hinein.
Das Kleid hatte sie an beiden Seiten zwischen dem Daumen und
Zeigefinger hoch emporgehoben, sie machte dem geehrten Publicum
eine liebenswürdige Verbeugung — dann ein Zeichen nach Johann
hin, der zitternd vor Angst am Flügel sass.
Vom Instrument her ertönte eine Kaskade von Trillern, und dann
ein lustiges, herausforderndes Hei! von Finken, die zu tanzen begann
Die überraschte Familie sah mit erschreckten, weitaufgerissenen
Augen zu — die Tassen wurden klappernd auf den Tisch gesetzt —
ein Buch fiel zu Boden, als Onkel Ole, der im Halbschlaf dagesessen
hatte, sich aus seiner Sophaecke erhob Man vernahm Aus-
rufe wie: »Aber du allmächtiger Gott!« — »Finken!« — »Aber
Fi—nken!« — ›Was fällt dir ein!« — und so weiter.
Der Flügel donnerte und zitterte unter einer wilden Tarantella.
Und Finken tanzte. Nicht gedämpft vorsichtig; sondern mit fliegenden
Röcken leidenschaftlich, mit Leib und Seele.
Die Familie sass sprachlos und starrte und lauschte. Die Taran-
tella brauste, jubelte und schrie ihre wilde Begleitung zu Finkens
leidenschaftlichem Tanz.
Die Jungen und die Jüngsten waren beim Laut der unerwarteten
Musik in den Salon hineingestürzt und standen ebenso sprachlos, aber
in unterdrücktem Jubel da und starrten bald Finken an, bald fragend
die Alten.
War das möglich? Hinderte das denn Niemand?
Finken’s Locken flatterten ihr lustig um Gesicht und Schultern,
sie fächelte im Takt des Tanzes mit einem Fächer, den sie in der
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 466, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0466.html)