Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 465
Text
Weise, mit genau denselben Redensarten beredeten und wo ein richtiger
Familienton mit ehrerbietiger Höflichkeit gegenüber den älteren und
einer förmlichen Unterthänigkeit gegenüber den ältesten Personen
herrschte — etsch!
Mit »etsch!« wurde Finken von einer Freundin charakterisirt;
denn Finken wäre ein »Etsch-Mensch« geworden; sie sagte »etsch« zu
Allem und Allen, bei jeder Gelegenheit.
Recht von Herzen kam es ihr, als Tom eines Abends nach
Hause kam, vergnügt seine Hände rieb und erzählte, wie sie die Oster-
feiertage zubringen wollten.
Sie sollte aller Mühe enthoben werden; am Gründonnerstag
sollten sie nämlich zu Onkel Hans, am Charfreitag zu Onkel Wilhelm,
am ersten Feiertage zu Onkel Ludwig und am zweiten Feiertage zu
Onkel August.
Finken schrie förmlich ihr »etsch!«, als sie dieses Programm
hörte. Sie sah die ganze wohlgenährte, gemüthlose und steife Familie
vor sich und hörte sie schwatzen — sie kannte die Hauptthemata
voraus; sie hatten neulich entdeckt, dass ein Bekannter von ihnen mit
einer ihrer Bekanntin eine Liebschaft hätte. Sie wusste genau die Worte,
die in Bezug auf diese Beiden angewendet werden würden; sie wusste,
was sie während dieser vier Tage für Essen bekommen würde: Rinder-
braten, Kalbsbraten, Schneehühner, Pudding, Kalbsbraten, Rinderbraten,
Schneehühner, Pudding, Schneehühner, Kalbsbraten, Rinderbraten,
Pudding — gelben Pudding mit rother Sauce — bei dem einen hiess
er Dagmar-Pudding, bei dem zweiten Prinzessinpudding, bei dem dritten
Eierpudding, bei dem vierten Rumpudding — etsch!
Und das statt der kleinen Fusswanderung im knospenden,
schwellenden Frühling mit einigen guten, lebenslustigen Freunden,
auf die sie sich so gefreut hatte. — Wenn Tom nur ihre Gedanken
hätte lesen können.
Man war mit den Familienfeiern glücklich bis zum Charfreitag
nach dem Mittagessen gekommen.
Die traditionelle Stimmung des Tages ruhte über der Gesell-
schaft. Man schwatzte wie sonst über alle möglichen Dinge, nur hatte
der Ton etwas Gedämpftes, es war, als wenn man sich während des
Gespräches erinnerte, dass die Schiffe im Hafen halbmast geflaggt hatten.
Die Aelteren sassen weich und gemüthlich im Salon, auf den
Sophas und bequemen Fauteuils, damit beschäftigt, die letzten Kaffee-
reste auszutrinken.
Sie behandelten mit denselben Worten und denselben Ansichten,
wie gestern bei Onkel Hans, den letzten Scandal, und hoben, jeder
besonders, die gefährlichen Zeittendenzen hervor, mit Hindeutungen,
die nicht misszuverstehen waren.
Finken schnob vor Wuth und Langweile, dass diese abgerichteten
Menschen so herzensroh sein konnten, an sie ihre Warnungen zu
richten. Wer wagte es, direct oder in direct, gegen sie als Frau eine
Beschuldigung zu erheben — wer wagte das —!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 12, S. 465, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-12_n0465.html)